S-Bahn-Geschichten: Freitag

Zwei Augen

Glücklich stand er auf dem Bahnsteig. Der Rucksack drückte schwer auf seine Schultern. Er bemerkte es nicht. Seine Bahn wurde bereits angezeigt. Je näher er seinem Ziel kam, desto aufgeregter wurde er. Er ließ es sich jedoch nicht anmerken. Mehrere Monate war er von zu Hause weg gewesen. Doch es hatte sich gelohnt. Wie Ausversehen glitt seine rechte Hand über seinen Hintern und kontrollierte das Vorhandensein der Geldbörse in der rechten Tasche. An die Zahl konnte er nicht denken, ohne wieder glücklich zu grinsen.

Die Bahn kam an, hielt, die Türen wurden geöffnet, eine alte Frau quälte sich hinaus. Er ging zielstrebig auf den nächstbesten Sitzplatz zu, stellte den Rucksack zwischen seinen Beinen ab und lächelte fröhlich seinem Gegenüber zu. Sie lächelte freundlich zurück. Er rückte sich auf seinem Platz zurecht. Seine linke Hand strich sich die regennasse Strähne aus der Stirn. Gleichzeitig hatte auch sie ihre Hand gehoben, um ein langes Haarbüschel wieder hinter das Ohr zu klemmen.

Verlegen über die unbeabsichtigte Synchronität schmunzelten sie sich einander an. Er freute sich über die rasch am Fenster vorbeifliegende Landschaft. Das bedeutete, daß er bald zu Hause sein würde. Im Fensterglas konnte er außerdem unauffällig das transparente Spiegelbild ihres Gesichtes betrachten. Auch sie sah aus dem Fenster. Ihre edlen Wangenknochen waren keck nach oben gezogen. Die schmalen Lippen formten eine winzige Öffnung, so wie eben der Mund eine Winzigkeit offensteht, wenn man zu faul ist, ihn zu schließen. Dahinter erahnte er zwei ebene weiße Zahnreihen. Die aufmerksamen Augen folgten der vorbeirasenden Gegend.

Lange hatte er sich auf diese Fahrt gefreut. Das Engelgesicht ihm gegenüber war ein unerwarteter Bonus. Mit einer solchen Begrüßung der Heimat hatte er nicht gerechnet. Er wendete ihr wieder den Kopf zu. Als sie die lächelnden, sie beobachtenden Augen spürte, wandte auch sie ihm wieder ihr Gesicht zu.

Eigentlich hätte er jetzt eine Unterhaltung anfangen können, sie nach dem Buch auf ihrem Schoß, ihrem Reiseziel, ihrer Meinung zum Wetter, zu den Reisebedingungen fragen können. Oder er hätte ihr von seinen letzten Monaten erzählen können, von der Freude auf zu Hause, von seinen Plänen für die nächsten Tage, Wochen, Jahre. Seine Lippen öffneten sich nicht. Auch ihre blieben jetzt geschlossen. Er las in ihren Augen. Alles, was er sie nicht hätte fragen können, las er.

In der Tiefe ihrer Pupille war etwas, das ihn magisch fesselte. Ihr schien es nicht unangenehm zu sein, den forschenden Blicken als Studienobjekt zu dienen. Er rutschte noch ein wenig hin und her und erfühlte einen Trageriemen des Rucksacks. Bald würde er aussteigen müssen. Er wehrte sich nicht dagegen, in ihren Augen zu versinken, ihm war auch egal, was sie gerade in seinen erkennen könnte. So wollte er ewig hier sitzen. In ihre strahlenden Augen blicken dürfen und nicht daran denken, daß er bald aussteigen müsse.

Die Bahn hielt. Er hatte es vorhergesehen und war noch einmal verzweifelt hin und her gerutscht. Konnte sie erkennen, daß er nur ungern ausstieg? Daß es aber sein müsse? Fühlte sie genauso? Beiläufig griff er nach dem Trageriemen, schulterte unmotiviert den Rucksack, wankte unentschlossen zur Tür und trat hinaus auf den Bahnsteig. Die Bahn fuhr an. Er sah ihr Gesicht langsam an sich vorbeifahren. Er hätte sitzenbleiben sollen! Wie konnte er diese Augen wiederfinden? Verzweifelt stand er auf dem Bahnsteig, unfähig, ihr, die noch nicht vollständig aus seinem Blickfeld entschwunden war, nachzulaufen. Was hätte es genützt? Beiläufig glitt seine rechte Hand über seinen Hintern und ertastete nichts. Erst spät erkannte er, was das bedeutete. Erst spät sah er ihre Hand mit seiner Geldbörse aus dem Zug heraus winken.

Sie würde ihn finden können. Sie hatte seine Brieftasche mit Ausweis und Geld. Sie würde ihn finden können und zu ihm kommen. Auf dem Ausweis stand seine Adresse, und mit dem Geld könnte sie sich ein Taxi leisten. Was sie sich von dem Geld alles leisten könnte!

Gedrückt stand er auf dem verlassenen Bahnsteig. Der Rucksack drückte auf seine Schultern. Einsam ging er, auf jeder Stufe gedankenverloren verharrend, die Treppe zur Straße hinunter.

Alexander Florin: Alexander Florinein Kind der 70er • studierter Anglist/Amerikanist und Mediävist (M.A.) • wohnhaft in Berlin • Betreiber dieses Blogs zanjero.de • mehr über Alexanders Schaffen: www.axin.de ||  bei Facebook || auf Twitter folgen

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