S-Bahn-Geschichten: Dienstag

Eine Stimme

„Nicht mal ’nen Sitzplatz kriegt man hier.” Schrill hallte die Stimme von den geschlossenen Fenstern wider. Am letzten Bahnhof war eine Frau zugestiegen. Nun stand sie ärgerlich laut im Gang und unterhielt sich mehr mit sich selbst als mit einem Anwesenden. Die Anklage wegen der, wie immer um diese Zeit, gefüllten Bahn richtete ihre gellende Stimme mehr gegen die Stahlwände als an einen der Fahrgäste. Höflich ignorierend wurden die vereinzelten Gespräche in der gewohnt leisen Stimmlage fortgesetzt. Doch ihre Stimme setzte unbeeindruckt brachial fort, die gefährlichste Drohung auszustoßen, der sich insgeheim und im ersten Moment jeder anschloß, die jedoch niemand Wahrmachen würde: „Mit dieser Bahn fahre ich nie wieder!” Wer wollte allerdings schon freiwillig darauf verzichten, zügig und ohne Staus nach Hause zu kommen? Diese Stimme vielleicht, was er leicht verstehen konnte: In einer Wohnung muß dieses Organ selbst für die Besitzerin brutal wirken.

Er war schon einige Stationen vor ihr eingestiegen und hatte sich auf einen der letzten Plätze setzen können, die Zeitung aufgeschlagen und war nun wie die meisten hier auf dem Weg nach Hause . Doch die sonst für ihn beruhigende und erholsame Heimfahrt schien ihm mehr und mehr als Fahrt in die Hölle . Denn diese Stimme, der ein Flüstern fremd war und die laut ihre Sorgen und Nöte herumbrüllte, setzte fort zu schimpfen und zu wettern; daß gerade sie stehen müsse. Er faltete entsetzt über dieses lebensfeindliche Geräusch seine Zeitung zusammen und steckte sie ein.

„Kein einziges Wort mehr.” Er war aufgestanden, hatte sie an ihrer Jacke gepackt, mit ihr eine halbe Drehung vollzogen und sie auf seinen Platz niedergedrückt: Gehackt kamen die einzelnen Worte. „Kein einziges Wort mehr.” Sein Gesicht war freundlich, sogar seine Augen lächelten sie freundlich an, so als hätte er seiner eigenen Mutter den Platz angeboten. Doch die leise Stimme war bedrohlich ruhig und bestimmt . „Kein einziges Wort mehr.“

Nie wieder würde er diese Stimme hören müssen. Beruhigt stand er nun an ihrer Stelle im Gang, sah gerade aus ins Nichts. Wie schön war doch die Welt ohne diese Stimme. Ohne irgendeine Stimme. Zögernd wurtde am anderen Wagenende das leise, fast geflüsterte Gespräch wieder aufgenommen. Das war besser. Er hatte nichts gegen die Geräusche des Lebens, aber diese Stimme sprach jedem Lebenswillen hohn. Er würde sie nie wieder hören müssen. Die losgeschickten Blicke, die erkunden sollten, was da vorgegangen war, erreichten ihr Ziel nicht. Zu schnell war alles vor sich gegangen, aber stand diese Frau nicht gerade noch im Gang?

Sie hatte anscheinend verstanden, was mit ihr geschehen war. Sie rückte sich auf ihrem Platz zurecht und blickte ihren Gönner an. Ihren Blick nahm er gar nicht wahr. Glücklich hörte er auf all das um ihn herum, in dem die Stimme nicht vorkam. Gleichmäßig stuckerten die Räder den Waggon, leise wurden Zeitungsseiten umgeblättert, geräuschvoll fand ein Bonbon den Weg aus dem Knisterpapier in den Mund eines Kindes. Doch die Stimme war nirgends zu hören: Die Bahn fuhr auf dem nächsten Bahnhof ein: Er hatte noch einige Stationen vor sich. Das Stück konnte er problemlos stehen, so lange nur diese Stimme schwieg und sich mit der dazugehörenden Frau auf seinem ehemaligen Sitzplatz ruhig verhielt. „Danke.” Sie bemerkte kaum, wie sie am Jackenkragen gepackt, hochgerissen und auf den Bahnsteig gestellt wurde. Laut gellten die Türklingeln, als sich der Zug wieder in Bewegung und er sich auf seinen Platz setzte.

Alexander Florin: Alexander Florinein Kind der 70er • studierter Anglist/Amerikanist und Mediävist (M.A.) • wohnhaft in Berlin • Betreiber dieses Blogs zanjero.de • mehr über Alexanders Schaffen: www.axin.de ||  bei Facebook || auf Twitter folgen

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