Pünktlich zum Jahresende – ein neuer Kalender

Das kommende Jahr steht für mich ganz im Zeichen der Erfindungen und deren gesellschaftlicher und kultureller Auswirkungen. Anlass war das Buch „How we Got to Now“ von Steven Johnson. Ihm gelingen in seinen Büchern inspirierende Verbindungen zwischen anekdotischer Historie, Faktenwissen und Analysen. Unterhaltsam, vielschichtig und anregend ist dieses Buch mein persönliches „Sachbuch 2014“. Es wirft einen überraschenden Blick auf unsere Welt und auf deren vielfältige und teilweise unbekannten Ursprünge und die Verflechtungen von Technik, Kultur und Innovation. Der Untertitel lautet „Sechs Erfindungen, die unsere moderne Welt hervorbrachten“, und er stellt Glas, Kälte, Klang, Sauberkeit, Zeit und Licht ausführlich vor.

Jedes Kalenderblatt greift einen oder mehrere Aspekte auf und skizziert die dargestellten Verflechtungen.

Als PDF laden (3 MB)

Lust auf das Buch bekommen? Amazon: How We Got to Now: Six Innovations That Made the Modern World

[Update 12/2016: Die deutsche Ausgabe ist unter dem Titel „Die Erfindung der Zukunft“ erschienen.]

Ich wünsche allen ein fröhliches, erfolgreiches und inspirierendes Jahr 2015.

Die Illustrationen, Bilder stammen zum großen Teil aus der Open Clipart Gallery, aber auch einige Bilder aus Wikipedia und anderen Online-Quellen wurden verwendet. Daher gilt: Die Verwertungsrechte verbleiben bei den Urhebern, meine Leistung besteht in der Zusammenstellung und im Layout – und das fertige Werk ist damit ausschließlich für den privaten Gebrauch zu verwenden.

Titelblatt

Gut Ding will Weile haben. Die zündende Idee oder ein „Heureka“-Moment sind die Ausnahme und nicht die Re- gel bei erfolgreichen Erfindungen. Steven Johnson spürt in seinem Buch „How We Got To Now“ sechs Innovatio­ nen (Glas, Kälte, Ton, Sauberkeit, Zeit und Licht) über Jahrzehnte und Jahrhunderte nach und beschreibt die Umstände ihrer Entdeckung und Entwicklungen. Insbe- sondere die kulturellen Verflechtungen und gesellschaftli- chen Auswirkungen stellt er so in erhellende Kontexte.

Januar: Sauberkeit

Wer keinen Zugang zu Quellwasser hatte, spielte vor der Erfindung von sauberem Trinkwasser bei jedem Glas Wasser mit dem Tod durch Keime, Bakterien, Krankheiten. Als Hauptgetränke dienten Wein und Bier – bis zum 19. Jahrhundert war die Bevölkerung den Tag über berauscht.

Chloriertes Leitungswasser (ab 1908) fügte sich in den allgemeinen Reinlichkeitstrend und brachte die Badekultur zu den Menschen nach Hause. Bald entstand eine Freizeitkultur rund um die Swimming-Pools. Die Antworten der Mode­industrie auf die Bedürfnisse der Schwimmer und Sonnenbader kamen in Form von Badehosen und Bikinis – und erregten die Gemüter.

Februar: Kälte

1851 erhielt John Gorrie ein Patent auf seine Eismaschine. Mit dieser kühlte der Arzt fiebrige Patienten.

1925 führte Willis Carrier die erste Klimaanlage in einem Kino vor. Ab den 1950ern waren Klimaanlagen für Zuhause erschwinglich und ermöglichten das Wohnen in unwirtlich heißen und feuchten Gebieten. Die Bevölkerungszahlen der US-Südstaaten stiegen und verschoben die politischen Machtverhältnisse. Weltweit verloren die alten Städte in gemäßigten Zonen an Bedeutung, während die Megacitys in tropischen Klimaten weiter wachsen.

März: Glas

Vor der Alphabetisierung, die der Buchdruck auslöste, störte die weit verbreitete Weitsichtigkeit niemanden. Nun wurden Sehhilfen benötigt. Aus den Experimenten der Mönche mit geschliffenen Glasscheiben entwickelte sich eine Brillenkultur. Linsen beeinflussten Wissenschaft und Kultur: Mikroskope (erfunden 1590; 1664 „Micrographia“ mit Zeichnungen mikroskopischer Beobachtungen von Robert Hooke), Teleskope (erfunden 1608; 1610 Galileos Beobachtungen der Jupitermonde), Kameras (Daguerreotypie/Fotografie 1839; elektronische Kamera 1883 mit Nipkow-Scheibe; Filmkamera für Analogfilm ab1888). Seit den 1940ern wird phosphorisiertes gewölbtes Glas mit Elektronen beschossen und liefert Fernsehbilder.

April: Glas

1887 schoss Charles Vernon Boys einen Pfeil durch flüssiges Glas und erhielt die erste Glasfaser, die er als Waagenarm für einen Versuch benötigte. Als Fiber besaß Glas, das bislang wegen seiner Ästhetik beliebt und seiner Fragilität berüchtigt war, eine besondere Festigkeit.

Im 20. Jahrhundert gelang es, Glas von besonderer Transparenz herzustellen. In den 1970ern führten die Experimente mit Fiberoptik zu Glasfaserkabeln – aus denen heute die Basis des Internets gewebt ist.

Mai: Klang

1857 erhielt Édouard-Léon Scott de Martinville ein Patent auf den Phonautograph: Das Gerät zeichnete Schallwellen auf. Diese Aufzeichnungen sollten die Arbeit der Stenografen erleichtern, das Verfahren fand jedoch keine Beachtung. 2008 wurde erstmals eine Aufzeichnung von 1860 vorgespielt.

Bells Telefon (1876; gedacht für die Übertragung von Musikvorführungen) und Edisons Phonograph (1877; gedacht für akustische „Postkarten“) dagegen revolutionierten die Kommunikation und legten den Grundstein für einen Musikmarkt – weil ihre Geräte die Tonsignale auch wiedergeben konnten.

Juni: Sauberkeit / Klang

1910 übertrug Lee De Forest eine „Tosca“-Aufführung kabellos mit seinem „Audion“. In den 1920ern wurde aus Hobby-Radio ein Massenmedium in den USA. Die neue Jazzmusik füllte viele Sendestunden und brachte Duke Ellington, Louis­ Armstrong oder Ella Fitzgerald in die Häuser der „Weißen“. Die Bürgerrechtsbewegung in den USA erwuchs quasi aus der Popularität der schwarzen Musiker.

1913 verkaufte Annie Murray „Clorox“ (ein abgeschwächtes Industrie-Reinigungsmittel) an Hausfrauen. Hygieneprodukte wie Seife und Deo begleiteten die Sauberkeitswelle für das Heim. Die Haushalte wurden mit Werbung überrollt, und 1930 startete die erste Seifenoper im Radio.

Juli: Sauberkeit

Die Städte explodierten im 19. Jahrhundert, und die alten Abwassersysteme kollabierten. 1855 ließ Ellis Chesbrough die Stadt Chicago, Gebäude für Gebäude, anheben und installierte ein Abwassersystem – das erste in den USA. Unterirdische Systeme machten bald überall das oberirdische Stadtleben erträglicher. Und, wenn man schon mal unterirdisch zugange war, konnte auch die eine oder andere U-Bahn-Linie gebaut werden …

Alte Städte standen „einfach“ auf dem Grund. Moderne Städte existieren parallel unter der Erde und sind von den unsichtbaren Ver- und Entsorgungssystemen abhängig.

August: Sauberkeit

Zu viel Sauberkeit ist schädlich; sind die Poren mit Schmutz verdeckt, kommen keine Krankheiten in den Körper. Der englischen Königin Elisabeth I. genügte ein Bad pro Monat; der französische König Louis XIII. wurde erstmals als Siebenjähriger gebadet. 1847 entdeckte Ignaz Semmelweis, dass sein Krankenhaus eine vielfach höhere Kindbettsterblichkeit aufwies als das Hebammenhaus nebenan – die Ärzte und Studenten wechselten zwischen Autopsien und Geburtshilfe. Semmelweis’ Order, zwischen beidem gründlich die Hände zu waschen, sorgte für Hohn und Spott. Bis gemeinhin die Infektionswege und Krankheitsübertragungen bekannt waren (durch Kontakt oder Flüssigkeit und nicht durch die Luft), war das Jahrhundert fast um – aber die Sauberkeitsbegeisterung setzte quer durch die Gesellschaft ein.

September: Zeit

Um 1700 erleichterte die von Galileo erdachte Pendeluhr die Positionsbestimmung auf See und gab den Takt für die startende industrielle Revolution vor: Arbeitszeiten, Stundenlöhne und später Fahrpläne folgten nicht dem Sonnenstand, sondern dem Ticken der Uhr.

Luftfahrt, Telefonnetzwerke, Finanzmärkte basieren auf der Genauigkeit der Atomuhren (1967: Atomsekunde als Standard definiert). Steigende Zeitpräzision ermöglicht exakte Ortsangaben: GPS ermittelt den Ort metergenau durch nanosekundengenaue Zeitsignale von Satelliten.

Oktober: Licht

Konzentriertes reines Licht ließ die Herzen der Wissenschaftler höher schlagen. Doch statt Laserkanonen und Todesstrahlen erhielt die Menschheit die Scanner-Kasse: Am  26. Juni 1974 wurde der erste Strich-Code gescannt (auf einer Kaugummipackung). 1978 hatte ein Prozent der US-Supermärkte eine Scanner-Kasse.

Der universelle Produkt-Code revolu­tio­nierte die Lager- und Logistikprozesse und ermöglichte eine tiefgreifende Automatisierung. An allen Stellen wird heute jedes Produkt mittels Scan identifiziert.

November: Licht

Etwa 2.000 Jahre diente die Kerze als einzige künstliche Lichtquelle. Bienenwachskerzen waren Wohlhabenden vorbehalten; die meisten stellten ihre Talgkerzen selbst her: mit rauchigem, stinkendem Flickerlicht. Die Spermacetti (ein besonderes Fett) des Pottwals erlaubten eine neue Kerzenqualität mit hellem weißem Licht. Der Wal wurde fast ausgerottet. Gas- und Kerosinlampen lösten ab Mitte des 19. Jahrhunderts das Kerzenlicht ab – sie schienen 20-mal heller. Das Licht kam in die Häuser, und die Lesekultur boomte. Zahlreiche neue Magazine und Zeitungen wurden gegründet. Tausende starben jedes Jahr bei Bränden, die ihre Lampen ausgelöst hatten.

Dezember: Licht

Licht wird immer billiger. Der Durchschnittslohn von 1800 hätte pro Arbeitsstunde 10 Minuten künstliches Licht in Form von Kerzen ermöglicht. 1880 erhielt man dank Kerosin und Gas bereits drei Lichtstunden. Heute gibt es aufgrund der Glühlampe und LEDs pro Arbeitsstunde fast ein Jahr künstliches Licht.

Unser Nachthimmel scheint 6.000-mal heller als der unserer Ahnen vor 150 Jahren. Der Lichtschalter entkoppelt unsere Arbeits- und Lebensweise von der Erdrotation. Lichtwerbung-Architektur  (Neon: ursprünglich ein Wegwerfprodukt der chemischen Industrie) prägt manche Städte intensiver als die Architektur der Häuser.

Alexander Florin: Alexander Florinein Kind der 70er • studierter Anglist/Amerikanist und Mediävist (M.A.) • wohnhaft in Berlin • Betreiber dieses Blogs zanjero.de • mehr über Alexanders Schaffen: www.axin.de ||  bei Facebook || auf Twitter folgen

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.