„Berlin ist laut, verdreckt und stinkt – ist es ein Wunder, dass man trinkt?“ Dieses Schild hängt bei meinem Onkel neben der Wohnungstür. Zu ihm führte mich mein erster Weg, als ich aus dem elterlichen Dorf in die Weltstadt Berlin übersiedelte. Einstmals hatte er so wie ich den Weg aus der Provinz in die Metropole genommen, um an der Freien Universität zu studieren. Freudig erzählte er mir von Berlins Wundern und Sehenswürdigkeiten. Bald jedoch wechselte der Tonfall von euphorischer Berlin-Beschreibung zu nostalgisch-verklärten Studien-Erinnerungen.
Dass die aktuelle Realität mit den schwärmerischen Erzählungen meines Onkels nicht mehr viele Gemeinsamkeiten hat, bemerkte ich bei meinem ersten Kneipenbesuch. Aus dem einstigen Underground-Insider-Tipp war eine schnieke Touristen-Kaschemme geworden. Das scheint überhaupt Berlins Schicksal zu sein: Jede neue spannende kleine Szene wird nur wenig später von Hotspot-Walzen überrollt. Spätestens seit der Trödelmarkt an der Straße des 17. Juni in jedem Reiseführer als Insidertipp verkauft wurde, kaufen Berliner dort nichts mehr. Ich entdeckte bald den Alternativramsch: am Boxhagener Platz und am Mauerpark. Noch kann man dort hingehen, vermutlich werden sie auch in wenigen Jahren touristisch erschlossen sein.
Drei Regeln für Zugezogene, um als Mensch zu gelten
Ich merkte bald: Nur Berliner dürfen berlinern. Wer nicht mindestens zwei Generationen Berlin-Blut nachweisen kann, sollte bei seiner Mischung aus Heimatdialekt und privater Variante von Hochdeutsch bleiben.
In Berlin wird nicht gelächelt – so das Klischee. Die Lächelunfreundlichkeit der Berliner Eingeborenenschaft und angepassten Zugezogenen ist tagtäglich in der S- und U-Bahn sowie beim Bäcker, an der Wursttheke und anderen Dienstleistungsorten zu genießen. Aber ab Mittag wurden bereits vereinzelt lächelnde Berliner gesichtet.
Prominente werden ignoriert. Egal wie bekannt oder toll die Person auf der anderen Straßenseite ist – man läuft weder rüber, noch bricht man in Jubelschreie aus oder bittet gar um ein Autogramm. Auch Prominente wollen sich in Berlin wohlfühlen.
Es gibt noch eine vierte Regel: Traue keinem Reiseführer und schlepp ihn vor allem nicht mit dir herum. Nach den ersten langweiligen Reiseführerhinweisbefolgungen hatte ich mir angewöhnt, mir zuhause ein Ziel auszusuchen und dieses dann auf eigene Faust in der Realität zu finden. So lernt man Leute kennen und stellt bald fest, dass die Berliner Unfreundlichkeit ihren Charme hat.
Irgendwann wird der Kiez zur Berliner Welt
Wie jeder gute Neu-Berliner war mein Onkel seit Jahren nur noch selten aus seinem Kiez herausgekommen. Wie jeder eingesessene Neu-Berliner ließ er sich von meinen Entdeckungen nicht überraschen, sondern verwies lapidar auf die Wandlungsfähigkeit der Großstadt. Wie jeder alte Neu-Berliner war er seit Jahren nur bei wenigen kulturellen Veranstaltungen gewesen – er könne sich bei der Auswahl eben kaum entscheiden und wolle niemanden dadurch beleidigen, dass er gerade zu diesem Konzert oder jener Ausstellung nicht ging. Also ging er kaum noch zu Konzerten oder Ausstellungen.
Ich als frischer Neu-Berliner ließ mich gern von der kulturellen, sozialen und kulinarischen Vielfalt verführen. In den ersten Wochen und Monaten verging kaum ein Abend, an dem ich nichts unternahm. Inzwischen brauche ich nicht allabendlich etwas Neues. Ich habe bereits die ersten Lieblingslokale ausgewählt. Berlin ist einfach zu groß und meine Lebenszeit zu knapp, um wirklich alles auszuprobieren. Aber ich liebe diesen lauten, verdreckten und manchmal stinkenden Moloch.
erschienen in „bus“, Oktober 2007.