Hausarbeit im Jahr 2002, an der HU Berlin, im Hauptseminar „Wittenwilers Ring“
1 Einleitung
Der große Handlungsstrang in Heinrich Wittenwilers „Ring“, der in Kapitel 2 ausführlich dargestellt ist, führt von dem Begehren eines Mannes (Bertschi) [f1]1:: Soweit möglich und sinnvoll werden die mittelhochdeutschen Namen benutzt. Mhd. Wörter werden ohne Anführungszeichen so geschrieben, wie sie in Brunners Ausgabe erscheinen.
2:: Diese Kapitel sind nicht explizit im Text markiert, doch finden sich am oberen Rand der Seiten Bezeichnungen der Textabschnitte, die nicht nur eine grobe Orientierung bieten, sondern als Kapitel-Überschriften gelten können. über das Werben um eine Frau (Mätzli) und eine Reihe von Belehrungen schließlich zur Hochzeit und letztendlich zum Krieg. Doch dieser Handlungsstrang zerfällt in viele Einzelteile – nicht nur in die drei Teile – wie es die Übersetzung von Horst Brunner durch die Unterteilung in Kapitel [f2] verdeutlicht. Wie fügen sich diese Einzelteile zu einem Ganzen? Sind Brüche im Handlungsfluss erkennbar, worauf sind diese zurückzuführen?
Das Geschilderte wird als gegeben betrachtet und nicht in Frage gestellt, vielmehr wird die Frage aufgeworfen, welche Konsequenzen diese Art zu handeln impliziert. Dabei bleibt natürlich die Tatsache, dass es sich um einen literarischen Text handelt, ein Autor also eine bestimmte Absicht verfolgte, bestehen.
Thema soll sein, exemplarisch einige strukturelle Ebenen – wie genau dieser Begriff zu verstehen ist, folgt in Kapitel 2 – aufzuzeigen und somit auch die Notwendigkeit, zwischen diesen hin und her zu wechseln, damit die Handlung so weitergehen kann, wie sie es im Text tut. Es scheint sich dabei nicht um eine Evolution oder kontinuierliche Entwicklung zu handeln, sondern eher um den Austausch einer Ebene gegen eine neue, was eine gewisse Willkürlichkeit impliziert. Dabei wird davon auszugehen sein, dass die Handlung jeweils einer bestimmten Logik folgt, die es zu benennen gilt, und nichts unmotiviert oder „einfach so“ geschieht.
Die Kompliziertheit liegt darin, dass es sich um einen Text handelt, der unterhaltsame und didaktische Elemente verbindet – wobei sowohl Kennzeichnung als auch Ziel ambivalent sind. Beispielsweise lässt sich das Turnier dahingegend verstehen, dass die ritterlichen Ideale hohl geworden sind oder dass Bauern in diesen Handlungen scheitern müssen.
Die Didaxe wird hier als Teil des Textes begriffen und nicht als etwas „Zusätzliches“ oder außerhalb der Handlung Stehendes. Dafür spricht, dass belehrende Einschübe stets an handlungsmäßig passenden Stellen eingearbeitet wurden und häufig mit der Unterhaltung vermischt sind. [f3]3:: Die Problematik der Trennung und verschiedenfarbigen Kennzeichnung erwähnt bereits Brunner im Nachwort seiner Übersetzung.
Trotz der Fülle an gebotenen Lebensleitlinien glaube ich, dass es ungewöhnlich ist, wenn ein Text in der Handlungsmotivation der Personen variiert. Damit ist nicht die unmittelbare Motivation gemeint, sondern die oft dahinter verborgene. Damit Bertschi seine Mätzli gewinnen kann, richtet er ein Turnier aus, schreibt Liebesbriefe und lässt zahlreiche Lehren über sich ergehen. Jede dieser Handlungen ist im Entscheidungsmoment anders motiviert; doch liegt in allen die gemeinsame Logik: das Begehren zu erfüllen.
Bleibt als festzuhaltende Frage, wo wechselt eine solche zugrunde liegende Motivierung oder Ebene? Wie ist dieser Wechsel zu werten? Wie kann ein solcher Wechsel erklärt werden?
2 Die Ebenen in der Handlung
2.1 Der Begriff „Ebene“
Wie eingangs festgestellt, werden im „Ring“ verschiedene Diskurse aufgegriffen. Die Personen agieren nach verschiedenen Handlungsparadigmen oder -motivationen. Die in den einzelnen Textabschnitten jeweils dominierende bezeichne ich im folgenden als „Ebene“. Dieser Begriff hat den Vorteil, Konnotationen, die „Diskurs“, „Paradigma“ oder „Motivation“ tragen, nicht berücksichtigen zu müssen.
Beispielsweise gilt das sexuelle Begehren der figurae oder die Frage, wie eine Ehe geführt werden soll, als Ebene. Die parodistische oder ironische Verarbeitung bezieht sich auf Referenzebenen, die in der weiteren Untersuchung ebenfalls von Bedeutung sind. Des weiteren hat die Unterscheidung der Person Bertschis in Begehrenden und Kämpfenden,die jeweils in verschiedenen Momenten das Geschehen beherrschen, ihre Berechtigung. In einem weiteren Sinne kann auch die Logik der Kriegsführung oder des Turnierkampfes jeweils als Ebene begriffen werden.
Nach meiner Beobachtung wird die Handlung auf verschiedenen Ebenen vorangetrieben. Auch wenn die Argumentation, dass die Handlung im wesentlichen dazu dient, verschiedene Lehren zu verbinden, durchaus ihre Berechtigung hat. Jedoch ist es nicht mein Ziel, zu ergründen, warum der Autor den Text so komponiert hat, wie wir ihn kennen, sondern vielmehr, was das Besondere der Handlungsstruktur ausmacht. Dabei finde ich bemerkenswert, dass keine der Ebenen in der geschilderten Handlung von Anfang bis Ende durchgezogen ist. Vielmehr ist es notwendig, die Ebenen zu wechseln. Es handelt sich dabei nicht um graduelle Veränderungen, dass eine Ebene von einer anderen überlagert wird, sondern eher um einen Bruch, nachdem die vorherige Ebene nicht mehr präsent ist.
Sicherlich bedient ein Großteil der literarischen Texte mehr als nur eine Dimension. Beim „Ring“ könnte man davon sprechen, dass durch die Handlung verschiedene Ebenen aneinandergereiht werden, wobei „Verwebungen“ der Ebenen untereinander eher selten sind, was den Text als großes Patchwork erscheinen lässt.
Ebenen können sich in einer Szene überlagern, doch spätestens am Ende der Szene werden sie gegen andere ausgetauscht. Beispielsweise durchzieht die Ebene der Lehre scheinbar den gesamten zweiten Teil. Man kann diesen Teil demnach als Lehrstoff lesen. Regelmäßig wird die Handlung – z.B. in Dialogen – weitergeführt, mitunter durchbricht sie auch die Lehrebene. Um also in Teil Zwei vom Anfang zum Ende zu gelangen, muss man mindestens zwischen zwei Ebenen wechseln, nämlich der Lehre und der Handlung. Je nachdem, wie stark man die Ebenen ausdifferenziert, entsteht so eine Reihe von aneinander „geklebten“ Ebenen. Wobei beispielsweise die Lehren häufig ein Stück weit auf zwei Ebenen funktionieren: nämlich als Lehre selbst und als Kommentar zu der vortragenden Person. Doch ab einer bestimmten Länge wird die Lehre zu einem Selbstläufer, der Leser kann den Eindruck, dass die Lehre die Person charakterisiert o.ä., nicht mehr aufrecht erhalten.
Zwischen Handlung und Didaxe ließen sich die Ebenen am anschaulichsten darstellen. Davon ausgehend kann ich jedoch die Reduktion auf diese Binarität, die temporär parallel laufen, nicht akzeptieren. Im folgenden bespreche ich deshalb noch einmal einige Ebenen textnah.
2.2 Teil 1
Nach der Vorstellulrig der Absicht (nutz oder tagalt oder mär, V. 50, 51) und Nennung des Autors im Prolog wird der Ort des Geschehens, Lappenhausen, kurz beschrieben. Es folgen die Vorstellung Bertschis (V. 62 ff) und die Beschreibung Mätzlis (übrigens die einzige ausführliche Personenbeschreibung im ganzen Text; V. 75 ff) als Gegenbild einer höfischen Dame; dabei dienen die Schilderungen höfischer Texte als Referenzebene, wodurch die Komik erzeugt wird. Man könnte argumentieren, dass die Schilderungen nur deshalb in dieser Ausführlichkeit und Detailliertheit erfolgen, weil sich der Text parodistisch auf eine Referenzebene bezieht.
2.2.1 Das Turnier
Bertschi kündigt an, ein Turnier zu veranstalten (V. 103 ff), um seine Liebste zu gewinnen. [f4]4:: Im weiterem Verlauf verweist Bertschi immer wieder darauf, dass er für die Minne turnieren will, während die Bauern das Turnier nutzen, um beispielsweise jemanden zu bestrafen oder schlicht um der Rauflust willen. Hier werden bereits verschiedene Motivationen nebeneinander gesetzt.
5:: Mit Szene ist ein Textabschnitt gemeint, der einen Handlungsabschnitt repräsentiert und dem ein Thema zugeordnet werden kann. Als Anhaltspunkte können die Kapitelüberschriften dienen, die Horst Brunner in seiner Übersetzung verwendet. Die Bauern werden vorgestellt, mit allen anmaßenden Ritter-Insignien ausgestattet (Bruch der Standesgrenzen; V. 105 ff). Schließlich folgen erste Turnier- (V. 205 ff) und Kampf-Szenen [f5], deren Gewaltdarstellung durchaus Bezüge zu Schilderungen in Heldentexten und Bauernschwänken aufweist.
Das Auftreten Neitharts bringt einen Lehrmeister ins Spiel, der Turnierregeln vermittelt, und vor dieser Folie erscheint das Handeln der Bauern umso mehr als Parodie. Einen Grund, weshalb den Bauern die Anwendung der Turnierregeln zur Parodie gerät, liefert Georg Lind, zwar in einem anderen Zusammenhang, allerdings scheint mir die Schlussfolgerung auch hier richtig:
Der bevorzugte Teil der Gesellschaft hingegen sorgt durch seine bessere Ausbildung für immer komplexere Lebenswelten, in denen es sich – ohne den Gebrauch von Gewalt und ohne Straftaten – nur leben lässt, wenn man in den Genuss höherer Bildung gekommen ist.
Der Hauptgrund für das bäuerliche Scheitern ist also mangelnde Bildung. Man könnte auch sagen mangelndes Verständnis oder gar Unverständnis, hervorgerufen durch ihre Bildung, die nicht vorsah, dass sie in einem Turnier bestehen müssten. Somit wird der Eindruck vermittelt, sie handeln wie Kinder, die das Verhalten der Erwachsenen nachspielen – zu ihrem eigenen Vergnügen und ohne das Verständnis der regelkundigen Erwachsenen.
Sie lassen die Ebene der zivilisierten Gewalt eines Turniers hinter sich und stürzen sich ins Chaos. Es wird zwar beschlossen, ein Turnier zu veranstalten, das Ergebnis hat aber nichts turnierhaftes. Aus der Symbiose des aufgegriffenen Regelwerks und der schlichten bäuerlichen Rauferei, entsteht eine neue Art der Auseinandersetzung, die beides hinter sich lässt.
2.2.2 Die Beichte
Neithart nimmt als „Laienbruder“ (V. 829) den Bauern die Beichte ab, setzt sich also auch über seine Standesgrenzen hinweg – möglicherweise hat das Verhalten der Bauern auf ihn abgefärbt. [f6]6:: Diese Standesanmaßung Neitharts verkompliziert das Verständnis. Handelt es sich um den spielerischen Umgang mit Beichtritualen zu seinem eigenen Vergnügen? Alles, was wir bisher über Neithart erfahren haben, deutet darauf hin, dass er ohne Skrupel zu seinem eigenen Vergnügen handelt. Wer von den Bauern sollte ihm, dem ständisch höheren und gebildeteren, etwas anhaben können? Auch er ist also in einer Atmosphäre, die bestehende Grenzen nicht achtet, sondern sie überschreitet, seiner Grenzen befreit. Dieses Spiel nehmen die Bauern ernst, woher sollten sie auch wissen, dass Neithart gar kein Recht hat, jemanden zum Bischof zu schicken. Neithart als der überlegen Gebildete nutzt sein Wissen zu seinem kurzfristigen Vergnügen aus. Wobei es auch denkbar wäre, dass die Bauern in ihrem ernsthaften Spiel nur zu bereitwillig auf den erfahrenen Spielmeister hören.
Während der Beichtszenen ist nicht erkennbar, ob sich der Text über die Bauern oder über die Beichtrituale lustig macht – beide Auffassungen bestehen und sind anhand des Textes belegbar.
Mit Neithart beginnt das Verwirrspiel in der Textanalyse, scheint es doch keinen unmittelbaren Grund zu geben, der das Auftreten gerade dieser Figur rechtfertigt. Scheinbar bezieht sich der Text hier auf eine Referenzebene (möglicherweise das Bild von Neithart als Bauernfeind), die er uns nicht nennt und damit die Wahl der Figur Neithart als treibende Kraft einiger Szenen fast willkürlich erscheinen lässt. Vielleicht ist es auch nur eine willkürliche Aufnahme in die Reihen der Protagonisten? Letztendlich ist sich Wittenwiler der Identität des „gastes“ (Fremden) ja nicht sicher, wie er in V. 155 ff zugibt, aber er verwendet den Namen dann durchgehend in Abwechslung mit gast.
Ist die Uneindeutigkeit die Triebfeder des Erzählens? Sind Rollenspiele somit nur eine Steigerung der Uneindeutigkeit? Denn letztendlich spielen die Bauern nur Rollen, denen sie nicht gewachsen sind. So wie Neithart, doch er scheint der Rolle des Beichtvaters gerecht zu werden, zumindest scheitert er in ihr nicht.
2.2.3 Der zweite Turnierversuch
Unter Anleitung Neitharts richten die Bauern ein richtiges Turnier aus (V. 877 ff), das neben der Standesanmaßung der Bauern und erneuter Gewalt mit Todesfolge – diesmal stirbt Jütze, weil sie vor Lachen vom Dach fällt (V. 1214 ff) – sozusagen in struktureller Hinsicht nur eine Steigerung des ersten Versuches darstellt und wiederum einmal die spielerisch-ernsthafte Freude, mit der sich die Bauern ins Getümmel werfen, unterstreicht.
2.2.4 Bertschi im Minnedienst
Im Anschluss daran versucht sich Bertschi in der Minnedichtungstradition (V. 1294 f und 1375 ff). Das erste Stelldichein im Kuhstall scheitert (V.1418 ff), Mätzli wird eingesperrt, Bertschi versucht sie zu befreien, wie ein Märchenritter die Prinzessin aus den Klauen des Drachen retten muss. Diese überhöhte Atmosphäre wird durch das Gespräch Mätzlis mit ihrer futze (V. 1572 ff) und das darauffolgende Liebesleiden bis zum Hohn übersteigert. Das Ideal der Liebe findet hier seine Erfüllung in sexuellen Trieben, was die Liebesbriefe (V. 1664 ff Lehre, 1878 ff Umsetzung) noch einmal betonen. Schließlich bewegen sich Bertschi und Mätzli auf einem Gebiet, auf dem sie sich ob ihrer Bildung und ihres Standes gar nicht bewegen können, ja gar nicht bewegen dürfen. Kein Wunder, dass sie nicht den eigentlichen Sinn dieser Art zu kommunizieren erfassen können, sie brechen ihn sich einfach auf ihre Bedürfnisse und Erfahrungen herunter.
Mätzli schreibt mithilfe des Arztes einen Antwortbrief (V. 2059 ff) und er „verführt“ sie (V. 2116 ff), dieser biderman (V. 2039, 2134). Auch die Intelligenzia des Dorfes (Henritze Nabelraiber und der Arzt Chrippenchra, die des Lesens, Schreibens und der Rhetorik mächtig sind) ist Teil des spielerischen Umgangs mit unverstandenen Regeln. Wie bei der Beichte ist auch hier die Mehrdeutigkeit Programm: Die Bauern scheitern in ihren Versuchen, höfische Ideale nachzuahmen; die höfischen Lehren enthüllen unter den zersetzenden Anwendungen durch die Bauern ihre Leere. Letztlich ist alles nur ein Spiel, die Frage (für die Bauern) ist nicht, wie ernst die Regeln zu nehmen sind, sondern wieviel Freude sie mit ihnen haben können.
Jede dieser Szenen lebt davon, dass sie sich jeweils auf eine bestimmte Texttradition, Erzähltechnik, Alltagsbräuche etc. bezieht oder sie parodistisch verarbeitet – somit spielt jede Szene auf einer eigenen Ebene und folgt damit einer eigenen Logik. Einzelne Momente, wenn beispielsweise Mätzli von dem briefzustellenden Stein bewusstlos geschlagen wird, beziehen ihre Komik aus gewalthaltigen Slapstickeinlagen – ernsthaft geschädigt wird niemand. Die oft überzogene Gewalt ist nicht nur aufgrund ihrer Körperlichkeit bemerkenswert, sondern sie bleibt im bäuerlichen Schwank und im Slapstick stets konsequenzlos (die einzige Ausnahme ist der Tod), sie rafft nur einen Esel und eine Randfigur namens Jütze dahin.
2.3 Teil 2
Der zweite Teil besteht überwiegend aus Versen, die mit roter Linie und damit als lehrhaft gekennzeichnet sind. Nach dem Austausch der Briefe wird Bertschi von Mätzlis Eltern geprüft. Er muss das Pater Noster, das Ave Maria und das Credo aufsagen und erhält im Anschluss zahlreiche Belehrungen, die hier tabellarisch nach Brunners Einteilung aufgelistet sind.
- Lastersak — Schülerspiegel, Laiendoktrinal
- Frau Leugafruo, Straub — Gesundheitslehre
- Übelgsmach u. a. — Tugendlehre
- Frau Siertdazland, Saichinkruog — Haushaltslehre
Die Namen der Lehrenden verleihen dem Lehrstoff einen ironischen Unterton. [f7]7:: Insgesamt wäre die Betrachtung der Namen und vor allem deren Bedeutung und Zusammenhang mit den Lehren und Handlungen von Interesse, würde aber hier den Rahmen sprengen. Eine komprimierte Analyse einiger Problemkreise hat Christoph Tourney in seiner Dissertation zusammengetragen.
Vorschriften und Ratschläge erschöpfen sich entweder im auswendig gelernten Nachsprechen konventioneller Formeln, allgemeiner Spruchweisheiten und literarischer Muster oder spiegeln private Vorstellungen wider […] Auch die sog. Ehedebatte, in der die Sippenmitglieder des verliebten Hauptnarren Bertschi Triefnas über Zweck und Nutzen der Ehe disputieren, zeigt, dass Wittenwilers Narren und Tölpel an der Willkür ihrer Deutungen scheitern. Scheinbar wissen die sich befehdenden Männer und Frauen über alles und nichts Bescheid. […] Diese aus den Fugen geratene, prinzipiell unendlich fortführbare Wechselbewegung von Meinung und Gegenmeinung, von Angriff und Gegenangriff kann immer nur durch äußere Faktoren – körperliche Erschöpfung im Rededuell, Einbruch der Nacht im Krieg – zum Stillstand gebracht werden.
Der scheinbaren strukturellen Logik des Beendens des Redeflusses durch Gewalt liegt eine weitere Basis zugrunde. dass nämlich nach kurzzeitiger Aufhebung aller körperlichen Grenzen oder Gewaltexzesse Wittenwilers Welt rasch wieder in ihren gewohnten Bahnen verläuft. Die Rauflust und die Freude an Gewalt ist durch die Konsequenzlosigkeit, die Bauernschwänken oder dem Slapstick immanent ist, gekennzeichnet – nach einem Austoben ist der alte Zustand wieder hergestellt. Dem verbalen Schlagabtausch nicht gewachsen, flüchten die Protagonisten in eine Welt realer Schläge.
Bei dem Hochzeitsmahl fällt dreierlei auf. Es gibt einen Mangel, dessen ist sich auch Bertschi bewusst. Dennoch agiert er, als würde dieser Mangel nicht existieren, und versucht, es als richtiges Hochzeitsmahl darzustellen. Drittens messen die Hochzeitsgäste das servierte Hochzeitsmahl an dem Ideal, missachten Bertschis finanzielle Lage und sind auch zu keinerlei Verständnis bereit. Sie bestrafen ihn dafür, dass das Mahl ihren Vorstellungen nicht entspricht. Und untereinander brechen Streit und Raufereien um das Essen aus. Sogar zur List sind die Esser fähig, wenn auch immer nur zu kurzfristigen (unkomplexen) Listen nach dem Schema: Ich tue das, darauf geschieht jenes und daraus ziehe ich meinen Nutzen.
Konflikte, wie sie bei dem Hochzeitsmahl im Streit um das Essen permanent auftreten, können in der Bauernlogik nur durch Gewalt gelöst werden. Wie Kinder wissen die Raufer jedoch, wann sie aufhören müssen: Entweder das Ziel ist erreicht, es gibt etwas interessanteres, was ablenkt, oder einer weint. Jan-Uwe Rogge hat in der Neuzeit ähnliches beobachtet:
Die festgelegten Regeln gaben den Auseinandersetzungen früher Halt. Man verletzte sich nicht vorsätzlich, man trat und schlug auf einen wehrlos am Boden liegenden Menschen nicht ein. Und diejenigen, die keine Lust an der Fortsetzung des Kampfes hatten bzw. konditionell am Ende waren, ließ man unbehelligt.
Und noch drei Feststellungen von Rogge zum Thema Aggression, die die Annahme stützen, dass die Protagonisten auf kindliche Verhaltensweisen zurückgreifen:
Aggression ist für Heranwachsende – entwicklungsbedingt – faszinierend. Kann Aggression in der Realität nicht – kontrolliert, regelgebunden, ritualisiert und verlässlich – ausgelebt werden, so sucht sich die Faszination ihre Symbole und Gegenstände.
Aggressionserziehung bedeutet, sich zunehmend körperlicher Auseinandersetzung zu enthalten, um nach altersgerechten Lösungen bei Konflikten zu suchen. Umgekehrt betrachtet: Je jünger Kinder sind – etwa bis zum Beginn des Grundschulalters – um so stärker werden Reibung und Meinungsverschiedenheiten auch körperlich ausgetragen. Allein mit Reflexion und sprachlichen Argumenten sind Kinder in dieser Altersstufe noch überfordert.
Kindliche Aggression ist mit innerer und äußerer Bewegung verknüpft, solch dynamische Kraft dient der Ausbildung einer eigenen Identität. Aggression als produktive Kraft will weg vom Erreichten, dient dazu, Unbekanntes bei sich und anderen zu entdecken. Eine kindliche Entwicklung ist ohne eine gekonnte Anwendung von Aggression undenkbar.
Die Faszination an Gewalt und die mit ihrer Ausübung verbundene Freude ist im „Ring“ mit Händen zu greifen. [f8]8:: Die grotesken Züge, die einerseits die Hemmungslosigkeit und FreudeV im Schildern belegen, verdeutlichen andererseits die Neugier, mit der sich die Protagonisten immer wieder auf die Suche nach „originellen“ Gewaltausübungen machen. Und Gewalt kommt häufig dann ins Spiel, wenn die Worte nicht mehr reichen. Wie will man sich auch gegenseitig überzeugen, dass man recht hat, wenn man nur exogene Lehren wiedergibt?
Und dann gibt es irgendwann den Moment, in dem sich die Kinder in eine Sache hineinsteigern und keine Chance mehr haben, ihr zu entfliehen.
Aus dem im Vergleich zu bisherigen Raufereien nichtigen Anlass, dass der Lappenhausener Eisengrein die Nissingerin Gredul beim Tanzen an der Hand kratzt, [f9]9:: Hier endet bei V. 6457 der zweite Teil mit der Vorausdeutung auf weiteres ungelimph.
10:: Wittenwiler verweist zwar darauf, dass Eisengrein Gredul seine Minne (wohl eher sexuelle Begierde) mitteilen möchte (V. 6450 f), jedoch ist die blutig gekratzte Hand als sexuelles Zeichen für uns nicht verständlich. Da es außerdem ein heimliches Zeichen sein sollte, war es für die anderen Bauern nicht offensichtlich (möglicherweise wusste nicht einmal Gredul, was es bedeuten sollte) – woher kommt also die Entrüstung? entwickelt sich nach einem einzigartigen verbalen Schlagabtausch eine Schlägerei. Bezeichnend ist, dass offenbar die Verletzung der Hand als sexuelle Provokation angesehen wird, [f10] worauf sich Eisengrein und Schindennak gegenseitig Vergewaltigungen in steigender Größenordnung anbieten, die in ihrer Absurdität an sich gegenseitig überbietende Kinder erinnert. Objektiv gesehen, fehlt diesem Hineinsteigern in den Konflikt jede Grundlage, waren doch bisher alle Streitigkeiten nach kurzer Rauferei beigelegt, wobei auch sexuelle und körperliche Verletzungen hingenommen wurden. Die jetzige Ausweglosigkeit überrascht und erscheint ein wenig willkürlich.
Hält man sich jedoch die Beobachtung vor Augen, dass Kinder eine große Freude an Sprachspielen, -verdrehungen und wilden, nicht selten körperbezogenen, sexuellen Assoziationen haben, erscheint die Interpretation der verletzten Hand als sexuelle Provokation nicht mehr allzu absurd – vorausgesetzt, man billigt den Bauern dieses kindliche Verhalten zu. Spielerisch steigern sie sich in ihren Vergewaltigungsfantasien (deren reale Umsetzung wohl nie ernsthaft erwogen wurde) in eine Konfliktsituation hinein, aus der sie schließlich meinen, nicht ohne Ehrverlust entkommen zu können.
2.4 Teil 3
„Irgendwo gab es den Moment, wo wir hätten Nein sagen können. Irgendwie haben wir den verpasst“, resümiert Guil., als ihm die Ausweglosigkeit und sein Tod in Tom Stoppards Stück „Rosenkrantz und Guildenstern sind tot“ (1967) am Ende bewusst werden. Zu einer solchen Erkenntnis sind weder die Nissinger noch die Lappenhauser fähig. Vielmehr steigern sie sich in die Kriegsvorbereitungen hinein, wobei wichtige Kriegslehren vermittelt werden, die zum großen Teil aus den lateinischen Kriegstraktaten von Legnano übernommen sind, so wie auch bisher zahlreiche Lehren klangen, als wären sie nur irgendwo abgeschrieben. Oder, bleibt man innerhalb der Handlung, als würden die Bauern nur fremdes Wissen wiedergeben, das sich ihrem eigenen Verständnis widersetzt.
Getreu den Lehren suchen sie Verbündete und beginnen schließlich den Kampf, aus denen als einziger Lappenhauser Bertschi lebend davon kommt. Interessant ist, dass sie nach dem Ausbleiben menschlicher Unterstützung sagenhafte Gestalten um Hilfe bitten. Ohne Skrupel oder Ängste nehmen sie deren Hilfe an. Die Heere setzen sich nun wie folgt zusammen (V. 7987 ff):
Lappenhausen (gesamt 2.500) — 312
Hexen — 1.100
Riesen — 7
Heiden — >1.000
In der Krinn (abgelehnt) — 1
Narrenheim — 50
Torenhofner — 131
Nissingen — 60
Zwerge — 1.098
Recken — 4
Schwyzer — 120
Mätzendorf — 79
Leibingen — 1
Wobei auffällt, dass die Lappenhauser offenbar weniger Angst vor anderen haben; bei ihnen finden sich zwei gefährliche Geschlechter (Hexen und Riesen) und auch noch die Heiden. Während sich zu den Nissingern unaufgefordert Zwerge, deren Schreckpotential wesentlich geringer ist, Recken (quasi menschliche Über-Helden) und umliegende Einwohner gesellen. Sind sie vernünftiger, wie der dort ausgebreitete Kriegsdiskurs vermuten ließe? Nach einigen Lesarten stehen sie den Lappenhausern als Stadtbürger und damit ständisch und hinsichtlich ihrer Bildung höher gegenüber. [f11]11:: Die Idee, dass Lappenhausen als Dorf und Nissingen als Stadt verstanden werden kann, findet sich u.a. in dem Aufsatz von Elizabeth de Kadt. Darin wird auch die Ständeanmaßung noch einmal verdeutlicht, wenn beispielsweise Rüfli bis zu seinem Tod als Kaiser bezeichnet wird. Daher ist bei ihnen wohl mit rationalerem Handeln zu rechnen, weniger kindlich Freude-orientiert.
3 Das Verhältnis der Ebenen
Während die Lalen [im Lalebuch] entweder nur weise oder nur närrisch sind, steht bei Wittenwilers Lappenhausern immer eine „Weisheit“ konträr neben einer anderen.
Dieses von Christoph Tornay festgestellte Nebeneinander verschiedener Weisheiten führt dazu, dass der Roman wie eine Patchwort-Decke wirkt. Er erscheint viel mehr als eine Aneinanderreihung von Lehrmomenten als ein stringenter Roman. [f12]12:: Denn gerade im zweiten Teil erleben wir keine Konsequenzen der Lehren, sie werden vorgetragen, ohne das Geschehen zu beeinflussen, zugespitzt stellen sie das Geschehen in Teil zwei dar. Geschickt wurden die einzelnen Momente in eine Handlung eingepasst und darin angeordnet. Somit ist jeder Patch nicht nur in sich selbst abgeschlossen, sondern auch Teil eines Ganzen, dessen Zusammensetzung aus (ehemals) eigenständigen Einzelteilen deutlich durch die Einbindung der verschiedenen Weisheiten hervortritt.
3.1 Motivationen
Ganzen Erzählteilen liegt eine jeweils eigene Motivation der Protagonisten zugrunde, mitunter scheint die Motivation auch von außen aufgesetzt oder es wird nur ein äußerer Lehrdiskurs wiedergegeben. Dabei läge die Motivation – ob der Protagonisten oder des Autors sei dahingestellt – dann darin, gerade diese Lehre möglichst ausführlich vorzutragen.
Hier einige Beispiele in der Abfolge des Romans:
Turnier — Minnedienst [f13]13:: Sicherlich liegt dem Minnedienst sexuelle Begierde zugrunde, doch Bertschi, ruft zum Turnier, um den höfischen Minnesitten zu entsprechen, „es muoss halt sein ghofieret“ (V. 195)
14:: Primär raufen die Hochzeitsgäste, um etwas zu essen zu bekommen. Sekundär gehen sie über die bloße Essensbeschaffung hinaus, anders als durch Freude an der Rauferei ließe sich die Ausführlichkeit der Rauferei nicht erklären.
15:: Die exogene Motivation des Endes resultiert aus der Vermutung, dass im Werk keine Gründe angelegt wurden, die auf dieses Ende hinweisen oder es evozieren. Somit erscheint die Tatsache, dass Bertschi sein Leben dann im Schwarzwald fristet, als von außen aufgesetztes Ende (irgendwann muss der Text ja ein Ende haben), das sich auf eine Referenzebene beziehen könnte, die uns unbekannt ist.
Kampf — Rauflust
Beichte — exogener Theologie-Diskurs
Minnedienst — sexuelles Begehren
Tugendlehre, Dreifaltigkeitstheologie — exogener Theologie-Diskurs
Gesundheitslehre — exogener Lehrdiskurs
4 Kardinaltugenden, Stände — exogene Lehrdiskurse
Haushaltslehre — exogener Lehrdiskurs
Hochzeitsmahl — körperliche Befriedigung
Raufereien — Rauflust [f14]
Kriegsvorbereitungen — exogener Kriegsdiskurs
Krieg — Rauflust, Kriegsdiskurs
Schluss — exogenes Ende [f15]
Exogen bedeutet, dass die Motivation außerhalb der Handlung liegt. Beispielsweise kann der Grund zur Ausführlichkeit der verschiedenen Lehren – gerade im zweiten Teil – nicht innerhalb des Textes entdeckt werden. Um die Handlung trotzdem am Laufen zu halten, sind diese exogenen Diskurse als Dialoge – Streitgespräch beim Ehediskurs, Schüler-Lehrer-Situation bei Kriegslehre – dargeboten.
Einige der grundlegenden Diskurse oder Ebenen sind hier noch einmal zusammengetragen, wobei gerade die Gegensatzpaare die Komplexität des Romans unterstreichen.
- Narrheit ./. Weisheit — [entspricht Handlung und Didaxe]
- uebermuot (superbia) ./. diemuot — [deutlich bei Ständeanmaßung und Beichte]
- Dorf ./. Stadt — [nach einigen Lesarten: Lappenh. – Niss.]
- Kampfeslust ./. Friedfertigkeit — [Aggression, rasches Ende der Rauferei]
- Sexualität/Begehren ./. Minne-Ethik — [letzteres drückt ersteres aus]
- Didaxe ./. Unterhaltung — [formal: rote und grüne Linien]
- religiös/theologisch — [Beichte, Bezüge Gott, gottgefälliges Leben]
- Rache/überstürztes Handeln — [führt zu Raufereien, dem Hineinsteigern in den Konflikt Lappenhausen – Nissingen und schließlich zum Krieg]
- Besonnenheit/Umsicht/Kriegslogik — [Orientierung an den Lehren]
3.2 Motivationswechsel
Welche Konsequenzen hat das für unser Verständnis? Anders als wir es gewohnt sind, dient dieser Roman nicht dazu, ein bestimmtes Ideal oder Thema darzustellen oder einen bestimmten Problemkreis zu verdeutlichen – wobei dann durchaus einige weitere Diskurse gestreift werden – sondern dazu, verschiedenste Problemkreise zu erfassen, eben „wan es ze ring umb uns beschait der welte lauff“ (V. 10 f). Durch diesen hohen selbstgestellten Anspruch sind Kompromisse im Handlungsverlauf notwendig, ebenso wie eine wechselnde Motivation der Protagonisten.
Bertschi beispielsweise verging im ersten Teil vor Begehren nach seiner Mätzli. Im zweiten Teil lässt er um einer Ehe willen sich umfangreich belehren und heiratet sie schließlich, sein Begehren wird also erfüllt. Doch vorher wird noch in aller Ausführlichkeit ein „Anti-Hochzeitsmahl“ ausgerichtet. Nach Erfüllung des Begehrens (Hochzeitsnacht) taucht Mätzli im dritten Teil faktisch nicht mehr auf. Nun heißt es für alle, sich auf den Krieg vorzubereiten und schließlich zu kämpfen. Rein theoretisch hätte dies abgewendet werden können. Warum sollte Bertschi gerade seine ersten Tage als Ehemann nun im Krieg verbringen? Eine äußere Kraft treibt ihn und die anderen dazu, die am Ende des zweiten Teils erfolgte Verletzung nicht in einer kurzen Rauferei abzutun, sondern schließlich sich gegenseitig auszurotten.
3.3 Ein Mensch hat nicht nur eine Dimension
Dieser Exkurs über die Ebenen und den Wechsel zwischen ihnen macht das Problem größer als es ist. Vereinfacht gesagt: Der Text arbeitet auf verschiedenen Ebenen, von denen keine einzelne das Erzählte von Anfang bis Ende hinreichend motiviert. Georg Seeßlen hat ausführlich dargelegt, dass Stanley Kubrick in seinem Film „Shining“ (1980) ein analoges Verfahren anwandte. [f16]16:: Dieses Verfahren, mehrere Ebenen nebeneinander zu setzen ohne sie direkt miteinander zu verweben, ist vergleichsweise selten anzutreffen. Daher finde ich Kubricks Anwendung bei der sich verschiedene Ebenen zwar überlappen können, aber keine die Handlung von Anfang bis Ende motiviert, – so wie es Seeßlen herausgearbeitet hat – interessant, zumal es die Aspekte dieses Verfahrens in einem anderen Medium noch einmal deutlich macht. Dort geht es zwar nicht um die Zerstörung eines Dorfes, sondern um die einer Familie, aber die zugrunde liegende Struktur ist ähnlich.
Mal agiert die Hauptfigur Jack Torrance als Vater, mal als Alkoholiker, mal als Ehemann, mal unter exogenem Einfluss stehend; ähnliches gilt für Mutter Wendy und Sohn Danny. Und nur wenn man sich der Existenz der verschiedenen Ebenen (auch unwissentlich) bewusst ist, funktioniert der Film, ansonsten weist er Brüche auf. Im „Ring“ haben wir beispielsweise Bertschi als Begehrenden und als Kämpfenden. Wir begegnen Figuren wie dem Arzt Chrippenchra, der die Lehre vom Minnebrief verbreitet und daraufhin Mätzli wenn nicht vergewaltigt, so doch mindestens ver- und damit die Minnelehre ad absurdum führt. Es scheint, als würde ein Schalter umgelegt von „Lehrmeister“ zu „Triebhafter“. Die Analyse des menschlichen Treibens, die zur Zerstörung Lappenhausens führt, zwingt aufgrund des begrenzten Platzes [Text- bzw. Filmlänge] dazu (Beschreibungen und Analysen sind trotz aller Ausführlichkeit immer komprimiert), bestimmte Verhaltensweise einfach nebeneinander zu setzen – wobei der Effekt, dass sich die Ebenen gegenseitig kommentieren dankbar in Kauf genommen wird.
Dies entspricht auch eher dem Ziel des Romans, der ja nicht das Innenleben einer Figur beleuchten will, sondern das Scheitern des Zusammenlebens schildert. dass Wittenwiler dabei (bewusst) die Protagonisten in verschieden motiviert aufspaltet, was ja den Menschen eher entspricht (man ist ja nun mal mehr als nur Begehrender oder nur Raufender, sondern mal dieses mal jenes), spricht für seine genaue Beobachtung. Die Frage, inwieweit er dadurch Kritik übt, kann ich damit allerdings nicht besser beantworten. Wittenwiler vermittelt ein Menschenbild, was ich nach Joseph Conrad so kennzeichnen würde: „Der Mensch obwohl ein Schwächling, ist oft auch noch ein Narr.“ Und Stanley Kubrick ergänzt: „Mit der menschlichen Persönlichkeit ist schon von Natur aus etwas nicht in Ordnung.“
4 Kindlichkeit als Erklärungsmuster
Bei der bisherigen Beschreibung wurden schon des öfteren Parallelen zu kindlichem Verhalten aufgezeigt. Wobei sich kindliches Verhalten daran orientiert, wie sich Kinder heutzutage verhalten. Das bedeutet nicht, dass Wittenwiler bewusst Kinder in erwachsene Rollen steckte. 17:: Diese kindlichen Geister in erwachsenen Körpern sind auch häufig im Slapstick anzutreffen. Auf die slapstickartige Gewalt im „Ring“ wurde bereits hingewiesen.Vielmehr erleichtert diese Betrachtungsweise (kindliche Geister in erwachsenen Körpern), die Handlungen der Personen zu verstehen – oder zu erkennen, worin für uns die Komik in dem Roman liegen kann. [f17]
4.1 Bestätigt der Text den Prolog?
Zieht man das kindliche Verhalten der Protagonisten in Betracht, so wird das Hineinsteigern in einen Krieg schon einsichtiger; in der Hinsicht, dass es nicht rational zu erfassen ist. Beharren auf einem Sachverhalt und die Nichteinsicht sowie kurzfristiges Denken, das ausschließlich auf eigenem Vorteil, eigener Überlegenheit gründet, machen das Erkennen unmöglich und können wohl als infantil gelten. Zu langfristigem Denken scheinen Wittenwilers Tölpel unfähig und Selbsterkenntnis ist ihnen ebenso fremd.
Wo ihnen dieses fehlt, kompensieren sie es in Lehren von außerhalb und demonstrieren umso eindringlicher ihre Unfähigkeit, weise zu handeln. Sie richten ihr Handeln an dem gegebenen Wissen aus. Dadurch wird zum einen die Unfähigkeit oder Unlust, das Erlernte flexibel den Gegebenheiten anzupassen, da ihnen dessen tieferer Sinn verborgen bleibt, offenbart; und zum anderen, da bei exakter Befolgung nicht das Gewünschte erzeugend, die Nutzlosigkeit der Lehren. Diese Ambilvalenz des Textes macht es unmöglich, eine „richtige und wahre Lesart? herauszuarbeiten. Es ist nie zu erkennen, ob nun die Referenzebene, also die Regeln und Lehren, oder die Bauern und ihr (Miss)Verhalten entlarvt werden. Für ersteres spricht, dass sich die Bauern mitunter exakt an die vermittelten Logiken halten, wobei allerdings beispielsweise Mätzli mit ihrer Vortäuschung der Jungfräulichkeit, wie sie es von Chrippenchrah lernte, bei Bertschi Erfolg hat, während die Anwendung der Kriegslogik zur Zerstörung führt. [f18]18:: Anstatt die eigenen Ziele zu hinterfragen oder nach Alternativen zu suchen, greifen die Lappenhauser und Nissinger sofort nach den ihnen bekannten Regeln (nämlich der Kriegslehre) und orientieren sich ab sofort an ihnen, ohne ihre Notwendigkeit anzuzweifeln. Nebenbei bemerkt ist der Sinn des Krieges ja die Zerstörung. Sie erreichen also doch das von der Lehre intendierte Ziel. Die Lehren, die im Text direkt umgesetzt werden, führen also zum Erfolg.
19:: Vielleicht haben sie, wie in Kapitel zwei angedeutet, aber gerade an dem entstehenden Chaos Freude und sehen das Ganze eher als Spiel denn als Ernst. Der spielerische Umgang mit den Regeln und das Agieren als scheinbar Erwachsene macht ihnen besonderen Spaß. Ähnlich wie das Kinderspiel „Cowboy und Indianer“ den – realen oder literarischen – Realitäten nicht entspricht. Vielmehr erzeugen sich die Kinder durch das „Regelwerk“ eine eigene Welt, um darin dann nach ihren – den gegebenen Regeln durchaus ähnlichen – Regeln Spaß zu haben. Für zweites, dass die Bauern teilweise die Regeln an die Gegebenheiten anpassen – was ins Chaos führt, wie bei dem Turnier im ersten Teil. [f19]
Unter Berücksichtigung des eben Gesagten scheint Wittenwiler dann doch den im Prolog verfolgten Anspruch gerecht zu werden. Schließlich funktionieren einige Regeln. Andere, vor allem im zweiten Text gebotene, untersucht der Text gar nicht auf Praxistauglichkeit. Und die Regeln, die nicht funktionieren, wurden von den Bauern an ihre Gegebenheiten angepasst. Indirekt erfolgt so der Beweis: Die Bauern sind unfähig, die Lehren der höheren Stände zu verstehen, sie können ihre Welt nicht verlassen (bzw. müssten erst dazu befähigt werden); somit wird die Grenze zwischen den Ständen bestätigt. Noch bösartiger zugespitzt ließe sich sagen, dass die Bauern auf die Körperlichkeit (in Form von Gewalt oder Sex oder verbalen Angriffen) fixiert und nur mit ihr Konflikte zu lösen imstande sind.
Unbeeinflusst davon bleibt die Frage nach der Richtigkeit der Regeln. Die Bauern sind ob ihres Gemütes nicht in der Lage sie anzuzweifeln. Der Leser, der versucht, ein Erklärungsmodell für das Verhalten der Protagonisten zu finden, wird das Scheitern der Regelanwendung mit dem – in meinem Fall kindlichen – Verhalten erklären, und kann leicht argumentieren, dass bei solchen Verhaltensweisen die Regeln naturgemäß ausgehebelt werden, somit keine Schlussfolgerungen über deren Richtigkeit möglich sind. Dabei will ich es hier bewenden lassen.
4.2 Kindlichkeit und Gewalt
Zu der Frage, was wir als kindliches Verhalten in Bezug auf Gewalt bezeichnen können, hat Georg Lind im Kontext der aktuellen Gewalt an Schulen folgendes formuliert (Unterstreichung von mir):
Problem- oder Aufgabenlösungen im Alltag werden dann als „gewalttätig“ bezeichnet, wenn sie als ungerecht und unangemessen empfunden werden, das heißt, wenn sie weder dem Problem, noch den Fähigkeiten des Handelnden entsprechen. Nur wenn beides der Fall ist, sprechen wir von einer gewalttätigen Lösung oder von gewalttätigem Verhalten. Wenn nur die erste Bedingungen erfüllt ist, nennen wir das Verhalten kindlich, unreif oder ähnlich. Wenn auch die zweite erfüllt ist, wenn wir also annehmen können, dass der Handelnde fähig war, sich angemessen zu verhalten, es aber nicht tut, dann sehen wir sein Verhalten als gewalttätig an.
Ich glaube, dass wir das Verhalten der Protagonisten als kindlich ansehen müssen. Ihre Kommunikation legt den Schluss nahe, dass sie unfähig sind, nach angemessenen Verhaltensmöglichkeiten zu suchen. Das heißt, sie entsprechen in ihrem Denken und Handeln dem, was wir heutzutage von Kindern erwarten würden. Das ist weder eine Abwertung noch eine Entschuldigung. Diese Erklärung soll vielmehr helfen, das im Text Gebotene zu verstehen. Denn der scheinbare Bruch zwischen zweitem und drittem Teil ist so – wie bereits dargelegt – nachvollziehbar.
In jeder anderen Argumentation muss nach meiner Beobachtung als Tatsache stehen bleiben, dass es sich an dieser Stelle um einen Bruch handelt. Die Tragweite dieser Tatsache ließe sich nur dadurch abmildern, wenn man zeigte – wie ich es in Ansätzen versuchte -, dass der Roman voll von solchen Brüchen ist, die nur selten so sehr hervorklaffen.
5 Schlussfolgerung
Nachdem anhand des Textes demonstriert wurde, dass regelmäßig die Motivation des Geschehens wechselt, bleibt nur noch die Begrifflichkeit dafür festzustellen. In dem bereits erwähnten Bild bleibend, würde ich den Text als Patchwork-Roman bezeichnen.
Anhand von Beobachtungen und Beschreibungen, wie sich Kinder heutzutage verhalten, glaube ich, dass das Beobachtete und Beschriebene auf die Protagonisten im „Ring“ zutrifft. Wir haben also Erwachsene mit teilweise großem Wissen (wie Teil zwei demonstriert), die aber ihr Wissen nutzen wie Kinder und auch sonst Kindern vergleichbare Handlungsmuster an den Tag legen.
Somit bliebe schlussendlich die Einschätzung, dass es sich hier um einen Patchwork-Roman handelt, in dem die Protagonisten kindliches Verhalten zeigen.
Bei einem solch komplexen Roman ist keine eindeutige Lesart möglich. Somit bleibt auch meine Einschätzung nur eine weitere „Denkhilfe“ neben vielen anderen, von denen keine den Text allumfassend erklären kann.
6 Quellen
6.1 Primär
Heinrich Wittenwiler, „Der Ring“, herausgegeben und übersetzt von Horst Brunner, Reclam, Stuttgart 1991
Giovanni da Legnano, „De Bello, De Represaliis et De Duello“, in „The Classics of International Law“, herausgegeben von James Brown Scott, Oxford University Press 1917
6.2 Sekundär
6.2.1 Zum Werk
Bruno Boesch, „Bertschis Weltflucht. Zum Schluss von Wittenwilers ,Ring?’, in „Studien zur deutschen Literatur und Sprache des Mittelalters“, Festschrift für Hugo Moser, herausgegeben von Werner Besch, Günther Jungbluth u.a., Berlin/West 1974
Elizabeth de Kadt, „Er ist ein gpaur in meinem muot, der unrecht lept und läppisch tuot … Zur Bauernsatire in Heinrich Wittenwilers ,Ring?’“, in Daphnis 15, 1986
Stefan Leßmann, „Superbia und Temperantia als Gegenspieler in Wittenwilers ,Ring?’“, Hausarbeit, unter: www.s-lessmann.de/haus3.htm
Daniel Rocher: „Rabelais, Wittenwiler und die humanistische Anschauung des Kriegs“, in „Festschrift Walter Haug und Burghart Wachinger“, Band 2, 1992
Werner Röcke, „Der groteske Krieg. Die Mechanik der Gewalt in Wittenwilers ,Ring?’“, in „Der Krieg im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Gründe, Begründungen, Bilder, Bräuche, Recht“, herausgegeben von Horst Brunner, Wiesbaden 1999
Christoph Tourney, „Die Krise der Allegorie in Wittenwilers ,Ring?’“, Dissertation 1998, unter: http://edocs.tu-berlin.de/diss/1998/tournay_christoph.htm
Persiflagen des Rittertums in Wittenwilers ,Ring?’, unter: http://mitglied.lycos.de/MD3/wittwi.htm
6.2.2 Zur Kindlichkeit
Georg Lind, „Jugendliche Gewalt – Fakten und Fiktionen“, unter: http://www.uni-konstanz.de/ag-moral/pdf/Lind-1994-Gewalt-Jugend.pdf
Jan-Uwe Rogge, „Eltern setzen Grenzen“, Rowohlt Taschenbuchverlag, Reinbek bei Hamburg 1995, Seiten 119-134
Jan Siebert, „Figuren des Komischen in Laurel & Hardys Sons of the Desert“, unter: http://www.uni-konstanz.de/FuF/Philo/LitWiss/MedienWiss/Texte/desert.html
6.2.3 Zu den Ebenen
Georg Seeßlen, Fernand Jung, „Stanley Kubrick und seine Filme?, Schüren Presseverlag, Marburg 1999
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