Das ist doch keine Kunst! Die Kunst des Feilschens! Ein wahrer Künstler! Die Kunst des Heilens! Kunst kommt von Können. Musik ist die einzig wahre Kunst! Die sieben Künste der Antike. Die Kunst des Bergbaus.
Zu Kunst hat jeder seine eigene Meinung und eine eigene Idee davon, was denn nun Kunst sei. Es wäre müßig, das auszudiskutieren. Jedoch ist es hilfreich, sich über sein eigenes Verständnis von Kunst klarzuwerden und sich bewusst zu sein, dass jede andere Person einen völlig anderen Ansatz und Anspruch an Kunst haben kann – und haben darf.
Wortverständnis
Kunst kann bedeuten (frei nach Wikipedia):
- besonders gut beherrschte Fertigkeit / Fähigkeit („kunstvoll“, „skillfull“ für Engländer) (z. B. die Kunst des Tischlerns, die Kunst des Bergbaus, die Kunst des Verhandelns, Handwerk [Kunsthandwerk])
- die Schaffung von etwas, das nicht unmittelbar dem Überleben dient (z. B. Malerei, Musik, Architektur (wenn es um mehr geht, als nur das Dach über dem Kopf)
- die Schaffung von etwas ästhetisch besonders Ansprechendem oder Ungewöhnlichem („künstlerisch“, „artistic“ für Engländer) (z. B. Malerei, Musik, Architektur (wenn es um mehr geht, als nur das Dach über dem Kopf)
- Ars Vivendi (die Kunst zu leben), Genuss
- Verständnis von Zusammenhängen, Wissen, Erkenntnis (z. B. die sieben Künste der Antike [„artes liberales“ für Lateiner])
- etwas von Menschen Geschaffenes (im Gegensatz zu Gottes Schöpfung) („künstlich“, „artificial“ für Engländer) (alle Artefakte)
- hohe Kunst (Werke die von einer Allgemeinheit als besonders wertvoll und bedeutend eingestuft werden) (z. B. Shakespeares Werke, La Guernica von Picasso, Beethovens Neunte – der Kunst-Kanon)
Wenn ein Musiker besonders begabt ist und seinen „Handwerkskollegen“ überlegen scheint, wäre er nach dieser Auflistung im doppelten Sinne ein Künstler, im Fall von Beethoven vermutlich sogar im dreifachen: besonders gute Beherrschung seines Handwerks, Schaffung von etwas nicht Überlebensnotwendigem und Aufnahme in den Kunst-Kanon. Der inflationäre Gebrauch des Wortes „Kunst“ führt allerdings nur bedingt zum Kern der Frage, wann etwas denn wirklich Kunst sei.
Allenfalls lässt sich als Bedingung festhalten, dass Kunst von Menschen geschaffen werden muss; Gott als Schöpfergott bzw. die Natur kann unbeschreibliche Schönheiten hervorbringen, aber keine Kunst. Als zweite Bedingung wäre festzuhalten, dass gemeinhin eine besondere Fähigkeit des Schaffenden vorausgesetzt wird, das „Kunst kommt von Können“-Argument. Kunst kann demnach nicht dadurch entstehen, dass zwei Affen Farbkleckse auf eine Leinwand spritzen.
Oder können die Affen doch Kunst produzieren? Liegt Kunst nicht vielmehr wie Schönheit im Auge des Betrachters? Sicher, die Kunstkritik hat die Deutungshoheit darüber übernommen, was als Kunst gilt. Wenn also zehn Kunstkritiker sagen, etwas sei Kunst, vielleicht haben sie ja recht, und es ist tatsächlich Kunst. Vielleicht haben sie auch nur ein anderes Kunstverständnis als ich, der ich niemals Farbkleckse von Affen als Kunst ansehen würde. Wenn ich allerdings nicht weiß, dass Affen die Farbkleckse fabrizierten und mich das Farbgebilde anspricht – ist es dann vielleicht Kunst? Wieviel muss ich eigentlich wissen, um zu beurteilen, ob etwas Kunst ist?
In diesem Zusammenhang bewährt sich das, was unter Allgemeinbildung verstanden wird. Diese erleichtert es zumindest, sich mit unbekannten Werken auseinanderzusetzen, da man über die wichtigsten Entwicklungen in Literatur, Musik und Malerei – um die häufigsten „Kunstarten“ zu erwähnen – in der Schule informiert wurde: der Lehrkanon.
Zwischen Nutzen und Freude
Die Forderung an Kunst lautete in der Antike: delectare et prodesse, Kunst soll also erfreuen und nutzen. Ästhetischer Genuss ist eine Freude. Die Anforderungen an „delectatio“ folgen Regeln der Harmonie, der Tradition und der technischen Möglichkeiten. Aber auch ästhetische Regelbrüche können Freude auslösen.
Die Nützlichkeit ist ein sehr dehnbarer Begriff:
- In der Musik als der abstraktesten aller Kunstformen ist bereits der ästhetische Genuss der Nutzen.
- In der Architektur besteht der Nutzen darin, eine Behausung zu bieten.
- Literatur informiert über menschliches Verhalten, bietet also beispielsweise Anschauungsmaterial zur ethischen und handlungsorientierten Erziehung und Bildung.
- Malerei soll nicht anwesende Begebenheiten, Personen oder Objekte präsentieren. Abbildungen dienen also der Gedächtnisstütze (wie Literatur) und – seit der Erfindung der Fotografie – der Präsentation von gefühlten Realitäten.
So wie beispielsweise impressionistische Gemälde die Welt nicht zeigen, „wie sie ist“, sondern wie sie wirken kann, so präsentiert beispielsweise Kafka keine Ansammlung von Fakten über konkrete Geschehen, sondern lässt in „Der Prozess“ die Seelenwelt lebendig werden. Der Nutzen liegt hier darin, dass Abläufe und Situationen mitteilbar wurden, die eben so mit keiner anderen Technik – Fotografie, Fakten-Notizen, Filmaufnahmen, Tonaufnahmen, etc. – möglich gewesen wären.
Worin liegt der Nutzen eines gemalten Obst-Stilllebens in fotorealistischer Qualität? Ist es wie in der Musik nur ein besonderer ästhetischer Genuss? Ist bei dem Gemälde eine zugrundeliegende Struktur spürbar, die wie bei der Musik den ästhetischen Genuss steigert? Immer wieder bedienen sich Kunstarten bei ihren Nachbarn und verwenden deren Verfahren bzw. messen sich an deren Ansprüchen; besonders deutlich wird das bei einigen Gedichten, deren musikalische Qualität ihre inhaltliche Aussage bei weitem übertrifft.
Scheinbar bemisst sich der Nutzen auch an pragmatischen Aspekten; da eben vor dem 19. Jahrhundert keine fotorealistischen Abbildungen möglich waren, musste die Malerei dies übernehmen. Demnach scheint in einigen Fällen bereits die besonders gute Fertigkeit des Schöpfers zu genügen, um ein Kunstwerk zu schaffen – konsequent angewandt würde das einen besonders fähigen Tischler zu einem Künstler machen.
Noch eine Nuance weiter gedreht, stellt sich die Frage, ob beispielsweise Mike Oldfield ein Künstler sei: Er komponiert Musik und führt sie auch selbst auf. In welcher Hinsicht ist er evtl. der größere Künstler: in der Schaffung eines musikalischen Werkes auf dem Papier oder in der konkreten Umsetzung? In einigen Stücken reizt er die Möglichkeiten seiner Instrumente bis an die Grenzen aus – insbesondere die von Gitarren – und schafft dabei Klangräume voller rhythmischer Strukturen, die von den ausgereizten Gitarren beinahe disharmonisch aufgebrochen bzw. konterkariert werden.
Noch etwas weiter gedreht: Ist der Autor Shakespeare der Künstler, oder ist es der Inszenator auf der Bühne? Handelt es sich überhaupt um vergleichbare Künste, Stücke zu erdenken und aufzuführen? Ist somit nicht auch zwischen der Kunst, Musik zu komponieren und darzubieten, zu unterscheiden? Ist nicht die Übersetzungsleistung eines Kunstwerkes – vom Papier in Musik oder auf die Bühne beispielsweise – bereits eine eigene Kunst? Die technischen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts ermöglichen es, die sonst einmaligen Darbietungen von Live-Musik und Theateraufführungen auf Tonträgern oder als Film zu konservieren; wobei ein Film schon wieder als eigene Kunstform angesehen werden kann.
Kunstwerke leben daher in ihrem beschränkten medialen Umfeld – ein Gemälde ist nun einmal zweidimensional und abgesehen von comicähnlichen Darstellungen handlungsfrei – und müssen sich darin bewähren. So wie Oldfield mit der Gitarre bewusst die Grenzen seines Mediums zum Bestandteil seiner Musik in der Aufführung machte, so ist häufig das Überwinden der jeweiligen Grenzen, beispielsweise dass ein Gemälde über seinen Rahmen hinaus wirken will oder in der Zweidimensionalität dreidimensionale Wirkungen erreichen will, Bestandteil einer Kunstform – nämlich mehr zu sein als „nur“ eben diese Kunstform.
Der Nutzen eines Kunstwerkes liegt also nicht nur in seinem Nutzen für das Publikum, sondern indirekt auch in seiner Auseinandersetzung mit dem Medium und mit anderen Kunstwerken (Stichwort „Intertextualität“).
Die Nutzen-Anforderung hat sich in Bezug auf das Publikum von der Funktion der Realitätsabbildung verschoben zur Veranschaulichung der gefühlten Realität. Der Delectatio-Anspruch hat sich „mit den Moden“ im Laufe der Zeit ebenfalls entwickelt. In der Malerei hat sich mit der Zentralperspektive seit der Renaissance ein ganz neuer Stil durchgesetzt, der noch stärker der Realität als der symbolischen Realität verpflichtet war. Mit der verfremdenden Malerei (Impressionismus, Kubismus, etc.) wurde die einstens zugunsten einer fotorealistischen Malerei aufgegebene gefühlte Sinnhaftigkeit des Gemalten (Stichwort: Symbolgehalt) nun mit der Aufgabe betraut, gefühlte Realität darzustellen.
Somit kann die Forderung nach einer ausgewogenen Erfüllung der Ansprüche „delectare et prodesse“ nur ein Ideal darstellen. Vor allem muss man sich, wie skizziert, klarwerden, nach welchen Kriterien die Ästhetik (das Erfreuen, der Genuss) und der Nutzen (instruierend, informierend) beurteilt werden.
Künstler – Publikum
Kunst liegt wie Schönheit im Auge des Betrachters, also des Publikums. Die Beziehung zwischen Schaffendem und Publikum können vielgestaltig sein. Drei Idealfälle verdeutlichen die Komplexität:
„Stille Kämmerlein“-Kunst
Ein Gemälde oder ein Gedicht benötigen nur eine einzelne Person als Schöpfer und existieren aus ihrer bloßen Existenz heraus. (Eine Vervielfältigung des Geschaffenen oder die Präsentation vor Publikum sind möglich, unterliegen aber meist den Regeln des Autors.) Dem könnte beim Film das dann zu verfilmende Drehbuch entsprechen.
Der Autor ist gleichzeitig das Primärpublikum und kann selbst beeinflussen und auswählen, welchem Publikum er sein Werk präsentiert.
„Sich zeigende“ Künste
Eine Musik- oder Theateraufführung oder ein Bauwerk entstehen nur im ersten Moment im „stillen Kämmerlein“. Ihre tatsächliche Realisation als Kunstwerk benötigt mehr als den Autor und ein Publikum, das sie wahrnimmt. Sowohl die Mit-Autoren (z. B. Darsteller, Musiker, Techniker, Interpreten) als auch das Publikum können dabei auf das Werk einwirken und es beeinflussen. Im Falle des Filmes entsprechen die tatsächlichen Dreharbeiten diesem Aspekt, dabei ersetzen der Regisseur und andere Stabsmitglieder das Publikum.
Das Werk entsteht durch die räumliche Nähe von Werk und Publikum. Das Publikum geht zu dem Werk, benötigt aber keine Technologie zur Rezeption.
„Technische“ Künste
Ein Musikalbum (beispielsweise „Tubular Bells“, von Mike Oldfield) oder ein Computerspiel (beispielsweise „SimCity“) entstehen nur durch die bewusste Ausnutzung der bestehenden Technik und bedürfen aufwandbedingt mehr als nur einer Autorenperson. Die Perzeption solcher Kunstwerke ist alternativlos auf Kopien (oder das serielle Vorführen einer „Masterkopie“) beschränkt und erfolgt unabhängig vom Publikum. Eine Beeinflussung außerhalb des Vorgesehenen durch das Publikum ist nicht möglich. Die Vervielfältigung und Distribution der Kopien werden zu existenziellen Bedingung des Kunstwerks. Dieser Bereich entspricht dann dem fertigen Film, der in Kopien (Verleihkopien für die Kinoaufführung oder Kaufmedien für Privatpersonen) dem Publikum präsentiert wird – dazu ist jeweils die geeignete technische Ausstattung nötig.
Publikum und Werk existieren voneinander unabhängig. Das Publikum holt sich das Werk (nach Hause), oder ein Publikumsvertreter (Kinobetreiber) verringert zumindest die räumliche Distanz, indem das Werk in der Nähe des Publikums wahrnehmbar ist. Dabei können mehrere voneinander unabhängige „Publikums“ gleichzeitig das selbe Werk in der selben (!) Gestalt wahrnehmen.
Eingeräumt:
Selbstverständlich lassen sich für alle Fälle zahlreiche Ausnahmen und Übergangskünste, wie Dichterlesung, abgefilmtes Theaterstück oder Hypertexte, finden, aber die Unterscheidung der Idealfälle verdeutlicht sowohl die Multi-Personen-Entstehung einer Kunstform wie Kino, das – von wenigen Ausnahmen abgesehen – in die dritte Kategorie gehört, sowie die von Technik abhängige Rezeption durch ein Publikums, das eben nicht durch „Buh“-Rufe oder physische Gewalt Einfluss auf das Geschehen nehmen kann.
Realität – Kunstwerk
Kunst entwickelte sich aus einem dokumentarischen Anspruch heraus. Verkürzt gesagt entstand Literatur aus der Notierung von geschichtlichen Ereignissen, Malerei als Gedächtnisstütze und Vorstellungshilfe, Musik aus der Nachahmung von Geräuschfolgen, Architektur aus der Notwendigkeit, eine Behausung zu schaffen. Durch die Erhöhung des ästhetischen Anteils bei der Schaffung entstanden daraus Shakespeare-Stücke (Historien [!], Komödien und Tragödien) und „Der Prozess“, „Mona Lisa“ und „Der Schrei“, „Beethovens Neunte“ und „Tubular Bells“ sowie die Akropolis und das Opernhaus in Sydney.
Bei handlungsgetriebener bzw. -bestimmter Kunst ist der Bezug zur Realität wichtig für die Betrachtung und Bewertung. Kurz gesagt, kann man zwischen Materie und Story unterscheiden.In „Computer im Kino“ habe ich die Unterscheidung ausführlich ausgearbeitet. Materie sind die Dinge, über die erzählt wird, also alle Elemente, die zu einem bestimmten Zeitpunkt aus der Handlung herauslösbar und beschreibbar sind. Die Story ist das, was erzählt wird, sie setzt die Materie-Elemente miteinander in Beziehung und bewirkt eine kausale Veränderung entweder der Elemente oder deren Beziehung von einem Ausgangspunkt zu einem Endpunkt; diese beiden Punkte müssen zwar nicht in der Präsentationszeit am Anfang und Ende liegen, aber in der Materie-Zeit sind sie chronologisch (eine Rückblende würde dann vor den übrigen Ereignisse angeordnet).
Die Handlung lässt sich nacherzählen, wobei dem Nacherzähler oft bewusst wird, wie wenig seine Nacherzählung mit dem eigentlichen Werk zu tun hat. Denn dieses besteht aus mehr als der nacherzählbaren Story. Besonders auffällig wird der Mangel einer Nacherzählung bei den Versuchen, Malerei oder Musik nachzuerzählen. Oft wird sich auf eine von drei Arten beholfen. Man versucht, das Wahrgenommene so gut wie möglich in Worte zu kleiden. Man beschreibt die entdeckten Strukturen. Man verweist auf bekannte ähnliche Werke. Oder man kombiniert alle drei Möglichkeiten.
Schnell wird dem Nacherzähler bewusst, dass Materie und Story allein noch kein Kunstwerk ergeben.
Innere und äußere Strukturen
Selbstverständlich lassen sich Goethes „Der Zauberlehrling“ oder Poes „Der Rabe“ nacherzählen. Doch dabei geht viel verloren. Die markanten Passagen „Walle walle manche Strecke …“ und „Nevermore“ bzw. „Nimmermehr“ verlieren ohne ihr Textumfeld deutlich an Wert. Sie sind in eine sprachliche Struktur eingebunden, die über die reine Handlung hinausgeht. Neben der inhaltlichen Struktur (z. B. Chronologie, Kausalbeziehungen etc.) besteht eine formale (z. B. Reim, Rhythmus etc.). Erst das Zusammenspiel beider ergibt ein Gedicht. Kommen noch Bezüge zu anderen Texte, Themenkreisen, Kulturelementen oder ähnlichem hinzu (Stichwort: Intertextualität), steigt die Komplexität eines Textes deutlich. Ebenfalls wertsteigernd wirkt sich die in Gedichten intensive Verwendung sprachlicher Bilder aus.
Der Reiz von Kunstwerken liegt daher in einem „Zuviel“ an Struktur. Ein Kunstwerk, das sich selbst erklärt und unverblümt sagt, was es bedeuten will, verliert deutlich an Wert. Neben der – theoretisch – nacherzählbaren äußeren Struktur existiert noch eine innere, die das Kunstwerk zusammenhält. Das können Wiederholungen oder das Wiederaufgreifen von Elementen oder Kontraste sein.
Um ein Kunstwerk vollständig zu verstehen, müsste man es neu erschaffen können, sich also in exakt der selben Situation wie der Schöpfer befinden: Philosophie, Wissenschaft, Religion, Klasse, Bildung, Erziehung, Moral, Sexualität (siehe dazu die Übersicht in meinem Referat zu „New Historicism“, Folie 6). Als Nebeneffekt würde man erstens den Respekt vor dem Kunstwerk verlieren, weil es einem so distanzlos plötzlich recht profan vorkäme, und zweitens den Autor und die Schöpfungssituation nach Ansicht mancher Theoretiker deutlich überbewerten. Denn die Rekonstruktion der Schöpfungssituation ist bei der oftmals vorhandenen räumlichen oder zeitlichen Distanz nahezu unmöglich.
Ein Kunstwerk kann auch ohne Wissen über seinen Schöpfer bestehen. Kann es? Wäre Beethovens Neunte so großartig, wenn wir nicht wüssten, dass der beim Komponieren schon nahezu taube Beethoven sie komponiert hätte, sondern einfach nur irgendwo die anonymen Noten entdeckt hätten? Andererseits kennen wir zahlreiche Autoren von alten Bauwerken oder Texten nicht und zählen sie zur Kunst – weil sie vom Können ihrer unbekannten Schöpfer zeugen oder weil sie „hohe Kunst“ sind?
Hohe Kunst
Aber wer legt fest, was „hohe Kunst“ ist? Die Kunstkritik (siehe dazu auch Kapitel 1). Je nach Zeitströmung und gerade aktueller Auffassung entsteht so eine Zusammenstellung der besonders geschätzten Kunstwerke – ein Kanon. Dieser muss nicht unbedingt dem Lehr-Kanon entsprechen, wie er in der Schule vermittelt wird, doch gibt es zahlreiche Überschneidungen.
„Das ist Kunst, das muss ich nicht verstehen.“ Mit dieser Erklärung kann man sich leicht vermeintlich fruchtlosen Diskussionen über Kunstwerke entziehen. Denn oftmals sind die Entscheidungen der Kunstkritik nur nachvollziehbar, wenn man sich ausführlich in der „Szene“ auskennt. Wie es hochgradig „hässliche“ und abstoßende Bilder schaffen konnten, in den Kanon zu geraten, bleibt mir ein Rätsel. Dieses würde sich jedoch schnell lösen, wenn ich mich ausführlich mit der Entwicklung der Malerei und den Ansprüchen der Kunstkritik auseinandersetzen würde. Allerdings müsste ich dazu wohl einige Tausend Seiten fade scheinender Texte über unterschiedliche Auffassungen lesen …
Es gibt, ganz vereinfacht gesagt, verschiedene „Kunstwelten“. Die Welt ist voller Künstler, und seien es nur Lebenskünstler. Daher ist es relevant, möglichst schnell festzustellen, in welcher Kunstwelt man sich gerade bewegt. In der Boheme würde die Idee, von der Kunst des Bergbaus zu sprechen, sicherlich Befremden auslösen. In der Bildungsgeschichte spielen dagegen die sieben Künste der Antike eine gewichtige Rolle, die jedoch nur noch historisch interessant ist – nur wenige würden heutzutage Grammatik oder Mathematik als Kunst bezeichnen.
Kunst ist, was zu mir spricht
Geradezu banal wirkt die Begegnung mit einem Künstler, dessen Werk man schätzt. Er ist ja auch nur ein Mensch! Er redet, sitzt, isst und furzt wie alle anderen Menschen auch! Wahrscheinlich hat er oder sie sogar noch mehr unangenehme Eigenschaften – vielleicht Mundgeruch, fettige Haare, eine unangenehme Stimmlage, zu viel Ego. Oder er oder sie tut Dinge in seinem Schlafzimmer, die mir unangenehm wären.
Doch seine oder ihre Werke berühren mich, teilen mir etwas mit, unabhängig wie jung oder alt sie sind. Es gibt Elemente darin, die – sind sie einmal bewusst oder unbewusst entdeckt – einen Bezug zu meinem Leben oder meiner Gefühlswelt haben. Ich entdecke Strukturen, die mich beeindrucken, begeistern. Ich erlebe eine ästhetische Sinnlichkeit, die sich neu und faszinierend anfühlt.
Das ist Kunst!
Jedenfalls für mich.