Wenn der Raum zwischen den Szenen zur Odyssee wird …
„Eine mythische Dokumentation“ hat Kubrick seine Weltraumodyssee genannt. Tatsächlich hat die Perspektive, aus der uns die vergangene und künftige Welt geschildert wird, dokumentarischen Charakter. Details werden aneinandergereiht und nur selten explizit in Beziehung zueinander gesetzt. Ein Off-Erzähler, der die vielen Lücken in der Erzählung überbrückt hätte, war im Drehbuch noch vorgesehen, doch Kubrick hat ihn bereits vor der Premiere wieder entfernt. Die entstandenen Momentaufnahmen stehen jeweils für sich selbst, deuten aber auch darüber hinaus und stehen in mehreren größeren Zusammenhängen, von denen keiner den gesamten Film erklären könnte. Somit bleibt es Aufgabe des Betrachters, die Bilder und Töne miteinander in Beziehung zu setzen, Verbindungen zu erkennen, Schlüsse zu ziehen – kurzum zu Erkenntnis zu gelangen.
Gleich zu Beginn zieht uns Kubrick in eine Welt, in der Worte nichts bedeuten, ja sie kommen nicht einmal vor. Nur mithilfe von Grunzlauten und expressiver Gestik vermitteln die Affen ihre Bedürfnisse; die Kommunikation ist auf das Wesentliche beschränkt bzw. findet nicht statt. Bereits die Verteilung des erlegten Tieres erfolgt ohne „darüber zu reden“. Das Recht des Stärkeren weist jedem seinen Platz in der Nahrungskette zu. Auch den Affen, die sich zu Menschen entwickeln werden. Ein Tiger fällt einen von ihnen an – die Szene bleibt offen – noch ist nicht festgelegt, wer der Stärkere ist.
Einbruch der Künstlichkeit
In schlichten fast dokumentarischen Plateau-Aufnahmen, die von erdigen Brauntönen dominiert werden, nehmen wir teil an den großen und kleinen Sorgen der Affenhorde. Wie ein Relikt aus einer anderen Zeit oder aus einem anderen Raum zerstört eine plötzlich auftauchende Stele die Natürlichkeit der Szenerie. Als schwarzer Fremdkörper steht der Monolith zwischen der Urwüchsigkeit der Landschaft und der Künstlichkeit der Existenz.
Diese Künstlichkeit beweist sich bereits in seiner Form: ein aufrecht stehender Quader. Würfel, Kugel, Pyramide und andere geometrische Körper dominieren durch die Einheitlichkeit ihrer Kantenlängen. Nicht so der Quader. Um seine Erhabenheit zu erkennen, ist es notwendig, die drei verschiedenen Kantenlängen ins Verhältnis zu seiner Gesamterscheinung zu setzen – ein vernunftgesteuerter Vorgang. Betrachtet man den Monolithen als Symbolisierung der Vernunft, so unterstreicht die Inszenierung die Intensität seines Einbruchs in das naturbezogene Leben der Affen.
Vernünftige Nahrungssuche
Die Affen agieren ihre Emotionen in Mimik, Gestik, Lauten und Handlungen (Begeisterung über die Macht des Werkzeuges Knochen) aus; im ersten Moment sind sie zu dem Monolithen (ratio) nicht kompatibel. Doch scheint eine Symbiose von ratio und Emotion durch Moonwatcher (wie der Hauptaffe im Drehbuch genannt wird) möglich. Kalkulierend benutzt er den Knochen, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, beispielhaft durch die Erlegung eines Tieres und die Vertreibung der feindlichen Horde vom Wasserloch dargestellt. Dabei wird gleich das Manko offenbar: Die ratio muss der Emotion unterliegen. Es würde zwar ausreichen, der anderen Affenhorde die Kraft des Werkzeuges zu demonstrieren, doch Moonwatcher kann sich (in seinem Machtrausch) nicht beherrschen und schlägt seinen Kontrahenten tot. Diese Unkontrollierbarkeit der eigenen Emotionen, die dazu verleiten, eine Handlung bis zu ihrer letzten Konsequenz fortzusetzen, selbst wenn das Ziel erreicht ist, wird auch später noch eine Rolle spielen.
Zur Abstraktion fähig, entdeckt Moonwatcher die Verwendung eines Werkzeuges. Zwischen die Aufnahmen, in denen er sich auf ein ausgeblichenes Skelett einschlagend der Wirkungen bewusst wird, sind kurze Bilder eines stürzenden Tieres geschnitten. Offenbar ist Moonwatcher fähig, die an den Knochen vollzogene Destruktion auf andere Objekte zu übertragen. Geradezu folgerichtig wird die Erlegung des Tieres im Anschluss ausgespart und wir sehen die Affen gemäß ihrer Hierarchie das Tier verteilen.
Eroberung des Weltraums
Der legendäre in die Luft geworfene Knochen nach der Niederstreckung eines Kontrahenten führt in die Weiten des Alls. Viel ist über diesen Match-Cut, der eine so große Zeitspanne ausspart, geschrieben worden. Bleibt festzuhalten, dass der Anspruch an die Betrachter, die Lücken zwischen den Szenen auszufüllen, kaum deutlicher hätte eingefordert werden können. Im Siegestriumph schleuderte Moonwatcher den Knochen als Zeichen seiner soeben erlangten Macht in den Himmel hinauf. Auf dessen Rückflug zur Erde werden wir Zeugen der langfristigen Auswirkungen dieser Himmelseroberung. Überhaupt nicht triumphal, sondern eher selbstverständlich, schweben verschiedene Flugkörper durch den Raum. Der Weltraum ist erobert.
Die Selbstverständlichkeit wird durch den Passagier an Bord einer Raumfähre unterstrichen, der von der Eroberung des Weltalls völlig unbeeindruckt in seinem Sessel schläft. Gleich darauf bricht der wackelige unsichere Gang der Stewardess, mit dem Schriftzug „PanAm“ auf ihren Schuhen, unsere Wahrnehmung des Alltäglichen. Auch muss der scheinbar an das Weltraumreisen gewöhnte Floyd die Anleitung der Zero-Gravity-Toilet durchlesen. Nicht das letzte Paradoxon dieses Filmes, der verschiedene, scheinbar unlösbare Widersprüche nebeneinander setzt.
Die Menschen sind noch bei der Erforschung und Eroberung des Weltraumes. Auch die Szenen im Weltraum stehen noch unter dem Titel des Prologs „Aufbruch der Menschheit“, was bei der übersprungenen Zeitspanne leicht übersehen wird. Kubrick zeigt also keine erreichten Ergebnisse, sondern nur die Fortsetzung des Aufbruchs. Welchen unbekannten Affenhorden werden die Menschen als nächstes begegnen? Wie werden sie ihnen begegnen?
Immer noch die alten Affen…
An Bord der noch unfertigen Raumstation begegnen wir zwei modernen Affenhorden. Der Amerikaner demonstriert seine Macht durch Exklusion der anderen Gruppe („Darüber darf ich nicht sprechen“). Die Russen dagegen wissen um ihre eigene Stärke oder die Überlegenheit, etwas in der Hinterhand zu haben („Он больше зняет“/ „Er weiß mehr“ – „Не важно“/ „Das ist nicht wichtig“). Die scheinbare Harmonie des Alls, in der die Konflikte des Kalten Krieges (zur Zeit der Produktion) aufgehoben scheinen, ist noch lange nicht überwunden.
Die Kommunikation bleibt auf banale Inhalte beschränkt, nur die Möglichkeiten sind erweitert. Bild-Telefone sind selbstverständlich, auch für Kinder, und das Telefon ist zu einem Sammel- und Spielobjekt für Kinder geworden. Doch ungeachtet des technischen Fortschrittes werden uns noch die gleichen Affen präsentiert, sie tragen nur Anzüge statt ihres Fells. Die Konferenz und das Gespräch an Bord der Mondfähre erinnern an das Affengekreisch. Sie bestätigen die Macht des Chefs Floyd und die Verteilung des Essens entspricht dem Zerlegen des Tieres im Prolog.
Konnte der Monolith die Affen noch mit seiner Unnatürlichkeit beeindrucken, so stößt er jetzt einen langanhaltenden schrillen Ton aus, um die für ein Foto posierenden Menschen in die Schranken zu weisen. Genau wie die Affen sind auch die modernen Menschen unfähig, den Monolithen in ihr bestehendes Weltbild einzupassen. Der Affe Moonwatcher war nach Berühren des Monolithen zu rationalem Handeln fähig; bei Floyds Berührung beginnt der Monolith seinen schmerzhaften Aufschrei.
All-Tägliches
Wieder folgt ein enigmatischer Schnitt, die Szene der Monolithenberührung wird nicht aufgelöst, stattdessen erfahren wir via Zwischentitel, dass die Mission zum Jupiter 18 Monate später startet. Diese präzise Zeitangabe informiert uns einerseits über den zeitlichen Abstand dieser Fahrt zu den Ereignissen auf dem Mond und andererseits über die evolutionäre Nähe zu den Affen.
Die Fahrt zum Jupiter beginnt mit einigen verspielten Szenen, die das Leben im All dokumentieren. Bereits bei Floyds Flug zur Raumstation wurden solche Szenen eingesetzt. Man denke nur an die die Wand hochlaufende Stewardess – mehr eine Darstellung des Lebens an Bord als Handlungselement. So beginnt auch der Flug zum Jupiter mit Szenen, die uns das eintönige Leben an Bord des Raumschiffs „Discovery“ dokumentieren.
Eine Atmosphäre von Harmonie zwischen Mensch und Maschine ist etabliert, als wir dem BBC-Interview beiwohnen, das uns über die wichtigsten Fakten informiert. Hal wird uns als imaterieller omnipräsenter Protagonist vorgestellt, dessen Kontrolle alles unterliegt.
Abkapselung
Das friedliche Miteinander-Reisen wird durch eine Fehlermeldung Hals abrupt unterbrochen. Eben noch spielte Hal Schach mit den Astronauten und sah sich ihre Zeichenversuche an. Eine banale, langweilige Reise, die sich nur dadurch von den üblichen langweiligen Reisen unterscheidet, dass sie durch das All führt. Kaum hat Hal die Betrachtung der Bilder abgeschlossen, stellt er Poole einige Fragen zu ihrer Mission und prognostiziert beim Verdacht, dass Poole den Fragen ausweicht, den Ausfall eines Kommunikationsmoduls.
Es scheint nicht allzu weit hergeholt, Hals scheinbare Fehldiagnose als sein Bestreben, den Kontakt zur Bodenkontrolle abzuschalten, auszulegen. Damit trennt er gleichzeitig die Verbindung zu seinem Zwillingscomputer auf der Erde. In diesem Verständnis scheint es logisch, die Astronauten, die aufgrund ihrer Erscheinung als Zwillinge oder zumindest einander ergänzende Pendants erscheinen, ebenfalls voneinander zu trennen.
Poole muss als erster sterben. Er zeigte noch Emotionen und künstlerische Ambitionen, wie wir aus seinen Bemühungen, die schlafenden Bordmitglieder zu porträtieren, erkennen. Hals Interesse an Pooles Emotionen / Zeichnungen führt zum ersten leisen Konflikt zwischen Mensch und Maschine. Nach dem Betrachten der Zeichnungen stellt Hal Fragen, die seine Unsicherheit widerspiegeln. Wollte Hal dem Menschsein näher kommen? Die Unterhaltung unterbricht Hal mit besagter Fehlermeldung, er schafft sich einen sauberen Abgang aus der unangenehmen Situation, so wie ein Mensch versucht, kritischen Situationen schadlos zu entkommen. Von seiner Unsicherheit dürfen weder sein Bruder noch seine Chefs in der Bodenkontrolle etwas bemerken – die Fehlermeldung schlägt zwei Fliegen mit einer Klappe.
Schuldzuweisungen
Dabei hätte es bleiben können. Doch die Astronauten behandeln Hal nicht wie einen Menschen, dem eine fehlerhafte Aussage unterlaufen kann. Aus seiner Fehldiagnose schließen sie auf seine Unzuverlässigkeit und beraten, wie sie im Notfall ohne Hal zurecht kämen. Damit stürzen sie ihn in ein Dilemma. Entweder gelingt es ihm, seine Notlüge aufrecht zu erhalten, was weitere Lügen nach sich zieht, was bei der Entdeckung die sofortige Abschaltung bewirken würde. Oder er gibt seinen Irrtum zu (was er nicht tut, er laviert herum: „es ist mir unerklärlich“), was den Astronauten erst recht einen Grund gäbe, ihn abzuschalten. Er hat also keine Alternativen zur Beseitigung der Zeugen seines Fehlers, wenn er einer Abschaltung entgehen möchte. Oder hat er aus seiner Unsicherheit heraus einen neuen Auftrag für sich entwickelt, der die Beseitigung aller potenziellen Störquellen – eben der Menschen – voraussetzt.
Auf struktureller Ebene wird eine Parallelität zwischen dem ersten Kapitel und der Jupiter-Mission deutlich. Moonwatcher (der knochenwerfende Affe) ist oft allein, von der Masse isoliert, er demonstriert seine Macht erst sich selbst mit dem Zerschlagen des Skeletts, dann der eigenen Horde mit dem Erlegen des Tieres und schließlich den Feinden. So wie Moonwatcher muss nun auch Hal nach der Distanzierung von seiner Horde (Bodenkontrolle und die menschlichen Astronauten) seine „Widersacher“ ausschalten, da diese potentiell seine Macht bedrohen können; das neuzeitliche Wasserloch als Streitobjekt bleibt abstrakt und uns als Zuschauern noch verborgen. Moonwatcher war unfähig, seine Macht zu erkennen, er konnte sie nur einsetzen. Hal dagegen erkennt seine Schuld (?) und zerstört alle Zeugen. Irgendwie erinnert Hal auch an Floyd, der seine russischen Kollegen von seinem Wissen und seinen Plänen ausschloss.
Rationaler Tod
Bowman eilt los, den toten Poole aus dem All zu bergen, die entstehende Zeit nutzt Hal, auch die letzten Menschen an Bord loszuwerden. Deren Tode haben nur etwas abstrakt Tragisches, informieren uns doch nur Monitore über ihr Verlöschen des Lebens – als würden Computer abgeschaltet. Sieht man Computer als Inkarnation der Logik und Vernunft an, so muss zwangsläufig eine Symbiose dieser Vernunftwesen mit (simulierter) Emotion scheitern und zu Identifikationsproblemen führen. So wie Moonwatcher trotz Vernunft weiterhin von seiner Emotion bestimmt wird, so kann sich Hal seiner ratio nicht entledigen.
Mit dem Körper im Arm der Raumgondel bittet Bowman um Einlass in das Raumschiff Discovery. Die Bilder und Töne, die ganze Bildkomposition und Inszenierung, eröffnen eine zweite Ebene. Bowman bietet dem Gott Hal den toten Poole als Opfer oder als Machtbeweis dar. Schließlich schreit er ihn in seiner Hilflosigkeit fast an. Darin schwingt ein „Sieh, was du getan hast“ mit und „akzeptiere deine Schuld“ oder auch „Sieh, wie mächtig du bist.“ Endlich antwortet Gott und beendet kurz darauf den Dialog wieder: „Dieses Gespräch führt zu nichts.“
Bowman gibt seine Opfergabe, den auf das erste Kapitel verweisenden „Überknochen“ Poole auf und überrascht Hal mit einem waghalsigen Einbruch, der ebenso zu seinem eigenen Tod führen könnte. Ein solches Verhalten ist für einen Computer nicht kalkulierbar, weshalb Hal stumm zusehen muss, ohne eingreifen zu können. War der Knochen im ersten Kapitel noch ein Zeichen für die Macht der ratio, so gerät der Überknochen Poole eher zum Symbol für die Emotion – die Umkehrung der Bedeutung derselben Handlung unterstreicht die Parallelität.
Rot-Grün
Bisher waren die Farben auf dem Flug zum Jupiter in Weiß, Schwarz und Grautönen gehalten, nur hier und da gab es funktional bedingt andere Farben, die jedoch allesamt matt waren. Einzige Ausnahme: die Raumanzüge. Erst darin wurden die beiden Astronauten, die sonst stets graublaue Kleidung tragen, eindeutig unterscheidbar. Diese Farbwelt ist jetzt in zweierlei Hinsicht von Bedeutung. Die Einlassschleuse, in die sich Bowman schleudert, ist ausgewogen weiß-rotbraun, was auf der Farbebene die Steigerung zu Hals blutrotem Denkzentrum andeutet. Überraschenderweise trägt Bowman nach seiner „Enterung“ einen grünen Helm (den wir vorher nicht sahen); in den nachfolgenden Szenen ist er wieder rot, passend zu seinem Raumanzug. Dabei kommt er sogar an dem Ständer mit dem roten Helm vorbei.
Der grüne Helm ist vielerlei. Er kann ein Symbol für die Hoffnung in dem winterfarbenen Raumschiff sein. Hoffnung worauf – dass die Menschen wieder die Herrschaft über die Maschinen erringen, dass das große Thema des Films (Verhältnis von ratio und Emotion) endlich ein glückliches Ende findet, dass Hal letztendlich als „sympathischstes“ Wesen an Bord doch gewinnen wird, dass Hals Schuldfähigkeit letzten Endes seine Menschlichkeit bestätigt?
In einer Lesart, die Hals Schuldkomplex ins Zentrum stellt, ist der grüne Helm ein Indikator, dass das nun folgende nur die Auswüchse eines von Schuld zerfressenen Hirnes ist. Zugegeben, die Auswüchse eines Elektronengehirns, das bisher jedoch so viel Menschlichkeit – und wie oft festgestellt wurde, mehr menschliches Verhalten als die Humanoiden – demonstrierte, dass diese These durchaus Bestand haben kann. Kurz gesagt, ist Bowman beim Versuch, die Discovery zu entern, gescheitert und alles, was wir ab jetzt sehen, sind nur noch Hals Halluzinationen, der mit seiner Schuld (fünffacher Mord aus Angst vor dem eigenen Tod) nicht fertig wird.
Eine andere – pragmatische – Erklärung wäre, dass ein Nothelm, eben dieser grüne, sozusagen für den Notfall in der Luftschleuse deponiert war. Daran gibt es zweierlei auszusetzen. Erstens würde Bowman dann den Helm nicht wechseln und zweitens ist es unwahrscheinlich, dass bei der Einrichtung des Raumschiffes an die Möglichkeit eines unbehelmten Allaufenthaltes gedacht wurde. Die Erklärung eines schlichten Anschlussfehlers scheidet bei Kubricks Arbeitsmethoden aus, zumal Bowman an dem roten Helm vorbeikommt.
Emotionale Fehler
Hal als Inkarnation der Vernunft kann das eigene Fehlverhalten nicht akzeptieren, weshalb die Theorie zur Schuldphantasie am plausibelsten klingt. Bowmans Gang durch das Raumschiff bis hin zu Hals Zentrum wird von einer Handkamera dokumentiert – eine Vorausdeutung auf den Monolithen, war doch die einzige andere Handkamera eingesetzt, als die Amerikaner sich dem Monolithen auf dem Mond näherten. Oder ist Hals Zentrum ein Sinnbild für den Monolithen, was formal durch die Handkamera und die quaderdominante Einrichtung unterstrichen wird. Ist dann das Lied, das Hal singt, nachdem Bowman Hand an ihn gelegt hat, dem Pfeifton des Monolithen, nachdem Floyd ihn berührte, vergleichbar?
Hal hat Angst, als Bowman sein Machtzentrum ausschaltet. „Ich habe Angst“, es scheint die erste Emotion, deren Tragweite und Bedeutung er völlig gewahr ist und in dem Moment nicht emulieren muss, sondern er setzt sie aus Selbsterhaltungstrieb bewusst ein. Doch dieser Unterwerfungsgestus beeindruckt Bowman nicht, der sich der Tragweite seines Handelns bewusst schwer atmend das Flehen des Computers ignoriert.
Hal hat Angst, um sein Leben, sein Seelenheil, zu einem Teil dürfte auch Verlassensangst mitschwingen, wie sein Lied „Hänschen klein“ andeutet. Er hat Angst, einer Zweisamkeit und der damit verbundenen Verantwortung nicht zu genügen, was das Lied im Original „Daisy“ thematisiert. Diese Lieder hatte er sehr früh gelernt – hat er damit auch früh Emotionen (Verlassensangst bzw. Angst vor Versagen) gelernt, die nun in aller Konsequenz auf ihn hereinbrechen?
Auch seine Versicherung „Ich fühle mich schon viel besser“, kann Bowman nicht beruhigen. Hal wendet Emotionen an, die er nur gesehen hat und selbst nicht kennt, die ihm aber bewusst sind. Ist dies Teil der Schuldphantasie? Auf jeden Fall gibt es einen deutlichen Zusammenhang von Schuld und Angst, Angst vor der Entdeckung der Schuld und des Versagens. Die Angst fühlt Hal in seinen Schaltkreisen, was zu einem Konflikt mit seiner ratio führt und ihn letztlich von dieser löst. Er glaubt und versichert und fühlt!
Emotion ./. Ratio
Bowman geht konzentriert und rational an die Aufgabe und bleibt ruhig; Hal appelliert an sein Mitgefühl und schließlich wird Bowman aufgeregt. Die Blockade der eigenen Emotion bricht letztendlich auf, und er wird sich der Konsequenzen seines Tuns bewusst, während sich Hal (notgedrungen) in sein Schicksal ergibt. Mensch und Maschine vollziehen entgegengesetzte Entwicklungen von ratio und Emotion.
Hal hat seine Gefühle schon früher entdeckt, er kann mit ihnen nicht umgehen und klassifiziert sie vorerst als Fehler. Beispielsweise muss er positives über die Bilder sagen, obwohl seine Schaltkreise sich deren Unzulänglichkeiten bewusst sind – bereits in der Idee, menschliches und soziales Verhalten in Schaltkreisen nachzubilden, ist das Scheitern eingebaut. Wie ein Kind kann Hal mit den neuen Emotionen nicht umgehen und sucht deshalb das Alleinsein (er ist erst neun) oder den Angriff nach vorn; wie ein überbegabtes Kind fehlt ihm die soziale Kompetenz, die er nur simulieren kann. Er fühlt seine Unzulänglichkeit, die nur in der Abwesenheit der anderen zu verbergen ist. Nicht zufällig kommt gleich nach dem Gespräch über die Bilder Hals Fehlermeldung.
Letzten Endes kommt Hal seiner Aufgabe nach und liefert den menschlichen Überknochen Bowman beim Jupiter ab, sendet ihn wie ein Samenkorn aus. Bowman wird daraufhin durch einen Strudel aus psychedelischen Bild- und Tonwelten geschleudert und findet schließlich in einem Ambiente des 18. Jahrhunderts zu sich selbst und der Integration von ratio und Emotion. Der Lichtkanal als Passage symbolisiert den Übergang, das Eindringen in eine andere (Denk)Welt. Das Verständnis des Lichtkanals als metaphorische Vulva unterstreicht die Verschmelzung zweier Lebensformen, die Schöpfung einer neuen Lebensform, neuen Machtform, neuer Machtinhaber. Eine Synergie aus Emotion und ratio wird bewerkstelligt.
Alter Ego
Der „gelandete“ Bowman sieht sich selbst altern, wobei jeder Altersstufe der Blick zurück verwehrt bleibt. Streng parallel sind die Metamorphosen angeordnet: Etwas lenkt die Aufmerksamkeit Bowmans auf sich, er blickt dorthin, sieht sein älteres Ego, dieses blickt dorthin zurück, kann den jüngeren Bowman jedoch nicht sehen. Das quasi zeitgleiche Existieren verschiedener Altersstufen Bowmans in dem weißen Raum versinnbildlicht eine Zeitgleichheit und damit Zeitlosigkeit. In diesem Zusammenhang erscheint ein Ausspruch Kubricks in neuem Licht: „Gestorben sein? Sag’s anders: die Zeit steht still und das Licht wartet.“ Schon der Kanal war voll Licht und kulminierte in wirren Lichtbildern, die teilweise eindeutige Befruchtungssymbolik aufweisen. Aus dem sehr hellen weißen klinischen Raumschiff, das durch die Lichtlosigkeit des Alls schwebte, durch den hellen Lichtkorridor, in dem alle Farben miteinander kulminierten, wurde Bowman in das helle Ambiente einer zeitlosen Barock-Einrichtung geworfen.
Wie bei Kubrick üblich, ist das Böse, das Unerwartete, das Gruselige in einem besonderen Licht zu finden – ob die dämonisch ausgeleuchteten Unfähigen in „Dr. Seltsam“, Jack Torrance im immer hellen Overlook-Hotel („Shining“), die Kriegstreiber in „Wege zum Ruhm“ oder die einsamen Astronauten im hellen, aseptisch illuminierten Raumschiff.
Der alte Bowman nimmt ein gediegenes Mahl in diesem zeitlosen Ambiente ein – anscheinend ist nur dort die Kombination aus Genuss und Nahrungsaufnahme realisierbar. Bisher jedenfalls sahen wir nur funktionalisierte Essvorgänge. Angefangen bei den Affen, die dem toten Tier das Fleisch ausrissen, über die Mahlzeiten an Bord der Raumschiffe, die anfangs noch durch Icons und Bezeichnung ihren Geschmack verraten, aber „eh alle gleich schmecken“. An Bord der Discovery werden die Speisen nur noch durch verschiedene Farben unterschieden. Die farbigen Essrationen deuteten bereits an, dass sich der Mensch auch in der Nahrungsaufnahme der Rationalität von Maschinen annähert. Bisher war jedoch eine Verschmelzung beider Seinsformen unmöglich; erst mussten Mensch und Maschine sterben, was den Tod der fünf Besatzungsmitglieder der Discovery und ihres Bordcomputers in einen tieferen Bedeutungszusammenhang stellt.
Emotion und Ratio in Personalunion
An diesen Zusammenhang erinnert auch das heruntergefallene Glas, das in seiner Form auf die Machtsymbole Knochen und Discovery verweist. Das Glas als ein Objekt, das das Licht bricht, wird zerstört, ist aber noch existent. Aus der neuen Form resultiert eine neue Lichtbrechung, was letztendlich auch die unumkehrbare Vergänglichkeit symbolisiert. Bowman blickt intensiv, aber unbestimmt auf die Scherben, bevor sein Blick auf sein nächstes Alter Ego im Bett fällt. Ob Bowmans Blick bereits Erkenntnis ausstrahlt oder er durch diesen Blick zu Erkenntnis gelangt, ist nicht zu entscheiden.
Die Metamorphosen, die anfangs noch den Alterungsstufen von Bowman folgen, führen zum Vernunft-Monolithen, der majestätisch vor dem Bett steht, und schließlich zu einer neuen Seinsform. In diesem Embryo, der anfangs das Bett ausfüllt und kurz darauf in unbestimmter Größe im All schwebt, findet sich die menschliche Existenz mit der monolithischen Übervernunft vereinigt bzw. sie werden als Glieder in der Kette der menschlichen Entwicklung präsentiert. In einem undeutbaren Blick, der für die einen Güte, für andere Resignation ausdrückt, blickt das „Sternenkind“ auf den blauen Planeten hinab.
Ist also die Symbiose aus Mensch und Maschine geglückt? Als die Affen den Monolithen berührten, geschah nichts – die Entdeckung des Werkzeuges steht in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit dieser Begegnung. Nach Floyds Berührung ertönt ein (Schmerz?)Schrei des Monolithen; bei der dritten Begegnung Mensch-Monolith verschmelzen Emotion und ratio endlich. Der vierte Auftritt präsentiert in dem Kind das Gleichgewicht der Kräfte zum Wohle beider.
Wieder einmal ertönt „Also sprach Zarathustra“, das bisher jeweils den Beginn eines neuen Bewusstseins markierte. Zu Filmbeginn tauchte die Erde buchstäblich hinterm Mond auf, worauf die Menschwerdung des Affen folgt, dabei untermalt „Zarathustra“ den Gebrauch von Werkzeug und hallt quasi bis in die Raumschiffsequenz nach. Die markanten Paukenschläge beenden den Film, just da Bowman erfolgreich mit dem Monolithen verschmolzen ist.
Zu guter Letzt
Auch wenn viele der Lücken, die Kubrick zwischen den Szenen seiner Dokumentation belassen hat, nicht eindeutig aufgelöst werden können, so führen die Versuche, Erklärungen zu finden, zu vielfältigen Ideen. In diesem Text ging es weniger darum, für alles plausible Deutungen zu finden, sondern Möglichkeiten aufzuzeigen, wie die Löcher zwischen den Szenen ausgefüllt werden können. Letztendlich muss auch nach dieser Betrachtung Kubricks Selbstanspruch unangetastet bestehen bleiben: „Ich wollte mit diesem Film nie eine in Worte zu fassende Botschaft vermitteln. 2001 ist eine Erfahrungswelt ohne Worte. Ich habe versucht, ein visuelles Experiment zu machen, das die Grenzen der Sprache überschreiten und mit seiner emotionalen und philosophischen Ausstrahlung direkt ins Unterbewusstsein dringen sollte.“ Bei dieser Erklärung sollten wir es letztendlich belassen.
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