Internet und digitale Daten bieten viele Vorteile. Aber es gibt auch noch eine reale Welt.
„Das steht doch alles im Internet.“ Nein, es steht nur das im Internet, was jemand dort eingestellt hat. Und selbst wenn es online ist, heißt das noch lange nicht, dass man es findet. Im Suchindex von Google und all den anderen Suchmaschinen werden täglich mehr und mehr Internet-Seiten erfasst, aber eben nicht alle. Verlässt man sich zu sehr auf die Ergebnisse solcher Suchdienste, entgehen einem wichtige Informationen. Das hängt auch davon ab, wo man mit seinem Computer ins Internet geht. Aufgrund unterschiedlicher Gesetze filtert Google in Deutschland und anderen Ländern einige Seiten heraus. Hinter der Landesgrenze bekommt man mit der gleichen Anfrage deutlich andere Ergebnisse präsentiert.
Derzeit etabliert Google auch eine Büchersuche. Eine Vielzahl von Texten wird eingescannt und bei einer Suchanfrage einbezogen. Ist erst einmal eine bestimmte Menge verfügbar, verstärkt sich der Eindruck: „Was Google nicht kennt, gibt es nicht.“ Im Gespann mit Amazon, dem großen Online-Handelshaus, bildet Google den Horizont des Wissens. Macht man sich klar, dass jährlich allein in Deutschland etwa 50.000 neue Bücher erscheinen, dann schwindet dieser Horizont. Denn Amazon führt zwar viele, aber längst nicht alle Bücher. Das Zentrale Verzeichnis Antiquarischer Bücher (www.zvab.de) kann da auch nicht immer weiterhelfen, denn hier ist der Bestand darauf beschränkt, was die modernen Antiquariate erstens im Lager und zweitens im Online-Katalog eingetragen haben.
Alles Wissen in 0 und 1
Auch die Bibliothek der Humboldt-Universität hat beispielsweise längst nicht alle Bücher in ihrem Online-Katalog erfasst. Anfang des Jahres betrug der Bücherbestand etwa sechs Millionen, von denen etwa eine Million im elektronischen Katalog verfügbar sind. Wer nutzt heute noch Zettelkataloge? Seit Anfang der 80er Jahre schreitet die Digitalisierung allen Wissens rasant voran. Wer einmal in die Verlegenheit gekommen ist, eine alte Diskette auslesen zu müssen, kennt die Probleme. Die Diskette ist unlesbar geworden, das geschieht auch bei CD-ROMs nach wenigen Jahren. Ist sie noch lesbar, kann man mit der Datei oft nichts mehr anfangen. Denn habe ich nicht mehr das Programm, mit dem ich sie erstellt habe und gibt es keinen Konverter, bleibt die Datei das, was sie ist: eine Folge von Nullen und Einsen.
Deshalb werden weltweit in einigen Instituten auch alte Rechner gepflegt und einsatzbereit gehalten. Häufig helfen Emulatoren, die einen alten Computer softwaremäßig nachahmen, um an alte Daten zu gelangen oder alte Programme wieder zu nutzen. Im privaten Bereich ist das besonders wegen der Spieleklassiker beliebt. Die Entwicklung schreitet so schnell voran, dass Programme nach nur wenigen Jahren als veraltet gelten. Deshalb empfiehlt es sich, alles in Dateiformaten abzuspeichern, die nicht auf ein bestimmtes Programm angewiesen sind, um zu gewährleisten, dass die Datei später für einen selbst nutzbar ist. Muss man die Datei versenden, sind solche Formate nur anständig, denn nicht jeder hat sich für teures Geld das gleiche Programm gekauft. Allgemeine Dateiformate wie .rtf, .pdf, oder .jpg sind aber von allen halbwegs aktuellen Systemen und Programmen gleichermaßen nutzbar.
Obwohl wir die Ära mit dem größten Datenaufkommen der Menschheitsgeschichte sind, könnte von uns am wenigsten übrig bleiben. Diese Ironie des Schicksals haben wir uns selbst zuzuschreiben. Im Digitalisierungswahn wandeln wir alles in Binärfolgen um, deren Bedeutung sich im wesentlichen auf Datei-Endungen gründet. Theoretisch könnte eine Magisterarbeit, wenn man sie von „ma.doc“ in „ma.mp3“ umbenennt, ein hörbares Musikstück abgeben.
Wider das Vergessen
Vereinfacht gesagt bestehen beide Dateien nur aus Nullen und Einsen, erst die Anwendung bestimmt, wie sie die Zahlenfolge interpretiert, ob sie aus ihr einen Text oder eine Tonfolge generiert. Ist irgendwann das Erstellungsprogramm nicht mehr verfügbar, bleibt es der Kreativität überlassen, den Sinn der Zahlenfolge zu erraten. Da stellt sich auch die Frage nach dem Urheberrecht. Hat der Text eine Musik ergeben, besitzt dann der Autor das Recht daran? Hat schon mal jemand eine solche Musik komponiert, kann er dann den Textautor verklagen, der ja eigentlich keine Musik erstellen, sondern sein Studium abschließen wollte? Zugegeben, es ist sehr unwahrscheinlich, dass solch ein Fall eintritt. Aber es ist möglich.
Gegen das Vergessen im digitalen Datensumpf kämpft das Rosetta-Projekt (www.rosettaproject.org), das wichtige Dokumente auf nahezu unzerstörbaren Scheiben sichert und dafür sorgt, dass der künftige Finder eine Anleitung zur Nutzung vorfindet. Doch für uns im kleinen Rahmen gilt derzeit: Jeder Ausdruck, der vor Feuer und Wasser geschützt ist, kann unsere Texte besser und länger bewahren als eine Diskette oder CD.
erschienen in „Spree“, Dezember 2004, Seite 22