Immer wieder gerät man an Zeitgenossen, denen bestimmte Elemente des Phänomens „Internet“ nicht geläufig sind. Häufig hilft es, anhand einer Analogie die Beziehungen und Funktionen zu beschreiben. Hier der Versuch, es mit einer Haus-Metapher zu erläutern.
Aus Nutzer-Technik-Sicht habe ich es schon einmal ausführlich beschrieben. Kürzlich bin ich über die Haus-Analogie gestolpert und formuliere sie hier nun etwas aus.Das Internet ist wie ein gigantischer Bürokomplex. Jeder kann darin ein Büro mieten und dadurch den Komplex vergrößern [= eine Internetseite einrichten]. Manche Büros sind ziemlich groß und gut besucht [z.B. Wikipedia, Amazon oder der Heise Newsticker]. Andere liegen eher versteckt, werden nur zufällig entdeckt oder sind nur Eingeweihten bekannt [z.B. viele private Internetseiten]. In manchen Büros kann man Geschäfte abwickeln [z.B. eBay], andere bieten Informationen an [z.B. Spiegel Online oder Ars Technica], wieder andere dienen nur der Selbstdarstellung ihrer Inhaber [z.B. axin.de;-) ].
Manche Büros sind gar nicht als solche wahrnehmbar, weil sie sich als soziale Fläche tarnen, also möglichst viele Menschen dazu verleiten wollen, sich darin aufzuhalten und miteinander zu kommunizieren [z.B. Facebook oder Xing]. Natürlich möchten auch die anderen Büros die Kommunikation der Besucher untereinander fördern, sie richten Foren [sic] ein, ermöglichen Kommentare oder Chats [sic, sic]. Diese Verbindung von einem klar abgegrenzten eigentlichen Angebot mit der sozialen Interaktion wird als „Web 2.0“ und „Social Media“ bezeichnet.
Zu jedem dieser Büros gehört mindestens ein Briefkasten [= eMail-Adresse], manche haben Tausende. Es gibt Büros, deren Hauptzweck es ist, Briefkästen zu betreiben [z.B. Web.de oder GMX] und diese allen zur Verfügung zu stellen, die sie benötigen.
Finanzierung
Diese Büros kosten Geld für den Betreiber [für das Web-Hosting], nicht für den Besucher. Wie in der realen Welt gibt es zwei Währungen: Geld und Aufmerksamkeit. Ersteres wechselt bei realen Transaktionen den Besitzer, beispielsweise wenn jemand eine Ware kauft oder Dienstleistungen in Anspruch nimmt. Auch gibt es Büros, die wie eine Theaterkasse Eintritt verlangen. Man zahlt beispielsweise einen monatlichen Betrag, um unbeschränkten Zugang zum Büro zu erhalten. Andere lassen erst mal jeden kostenlos rein, verlangen aber für bestimmte Dienste eine Gebühr.
Die Sekundärwährung ist die Aufmerksamkeit. Wie in der realen Welt wird an möglichst vielen Stellen die Aufmerksamkeit des Besuchers versucht, auf Werbung zu lenken. Geworben werden kann für alles, aber am Ende der Werbe-Kette steht letztlich irgendeine Aktion, bei der der Besucher Geld bezahlt – für eine Ware oder eine Dienstleistung. Natürlich wird im Büros eines Hundefutterherstellers Werbung für Blumensträuße weniger Wirkung haben als Werbung für Hundeleinen oder eine Hundeshow. Das Ziel der Werbenden ist also immer, den Besucher auf Möglichkeiten hinzuweisen, Waren oder Dienstleistungen gegen Geld zu tauschen. Je besser die Werbung auf die Zielgruppe ausgerichtet ist, desto besser kann sie wirken.
Das Ziel der Büros, in denen Werbung erlaubt ist, geht zum Teil dahin, ein möglichst effektives Umfeld für Werbeplatzierung zu bieten. Dank moderner Technik können die sozialen Interaktionen „belauscht“ werden, und die Werbeeinblendung passt sich dem Inhalt an. Das geschieht rein mechanisch, dazu muss kein Mensch die Inhalte verfolgen. Man muss sich dessen nur bewusst sein: Auch im Internet bezahlt man für alles – entweder bar oder mit Aufmerksamkeit (= Ablenkung).
Reine Repräsentationsbüros [z.B. großer Unternehmen] sind gewissermaßen Werbung in sich. Spaß- oder versteckte Ecken [z.B. private Websites] dagegen sind so billig zu betreiben, dass diese tatsächlich kostenlos sind bzw. die Betreiber auf Werbung oder andere Bezahlungen verzichten.
Übersicht
Da es in dem Bürokomplex inzwischen so viele Büros gibt, dass keiner mehr den Überblick besitzt, gibt es zwei Verwaltungen. Eine registriert alle Büros und weist ihnen einen Platz zu [z.B. die Denic], kümmert sich aber nicht weiter darum, wer dort einzieht und was angeboten wird. Sie besitzt daher auch nur verwaltungstechnisch interessante Angaben über jedes Büro. Der Bürokomplex ist in verschiedene Flügel aufgeteilt, die entweder nach nationaler Herkunft der Bürobetreiber benannt sind [z.B. „.de“ für Deutschland, „.it“ für Italien oder „.us“ für USA] oder nach Ausrichtung des Büros [z.B. „.com“ für kommerzielle Angebote, „.org“ für Organisationen; Liste bei Wikipedia].
Eine andere – inoffizielle – Verwaltung rennt regelmäßig durch möglichst viele Gänge und katalogisiert, was in den einzelnen Büros so geschieht. Kommt nun ein Besucher und weiß nicht, in welchem Büro er Antworten finden kann, so fragt er diese zweite Verwaltung und erhält ein paar Empfehlungen. Es gibt ein paar unvollständige Kataloge der Büros [z.B. früher Yahoo oder DMOZ] und drei große Unternehmen, die alle den Suchenden helfen wollen [Google, Bing, Yahoo].
Natürlich schauen die Verwalter häufiger in Büros vorbei, in denen viel los ist und ständig neue Inhalte entstehen. Sie beobachten auch, wie viele Besucher von einem Büro in ein bestimmtes anderes verwiesen werden [= Links]. Solche Informationen berücksichtigen sie, wenn sie Suchenden Büros empfehlen.
Diese inoffiziellen Verwaltungen werden von niemandem direkt bezahlt. Sie sind aufgrund der Größe des Bürokomplexes für die Besucher notwendig, sodass die Bürobetreiber gern bei den Empfehlungen passende Werbung schalten, um die Besucher in ihr Büro zu locken. Das Angebot des Büros kann durchaus genau im Interesse des Suchenden liegen, beispielsweise wenn er nach Hundefutter sucht und verschiedene Anbieter empfohlen bekommt – davon auch einige als Werbe-Anzeige. Die Werbung ist die Haupteinnahmequelle für diese inoffiziellen Verwaltungen, daher versuchen sie natürlich, möglichst viele Besucher anzuziehen, indem sie möglichst passende Empfehlungen geben.
Damit das schön preiswert bleibt, erledigen Automatismen das Empfehlen; diese Automatismen werden ständig weiter optimiert. Wer in seinem Büro nur Geschäftigkeit vortäuscht, um von den Verwaltern als empfehlenswert wahrgenommen werden, kann durch eine Anpassung des Automatismus abgestraft werden. Es ist ein ständiger Wettlauf zwischen Bürobetreibern und Empfehlungsgebenden – die Empfehlung gibts ja kostenlos, davon profitiert der Bürobetreiber, für Werbung müsste er zahlen. Also optimiert er sein Büro so [= Search Engine Optimization], dass der Verwalter es als möglichst empfehlenswertes wahrnimmt, immer wenn er vorbeikommt. Gepflegte Erscheinung = gute Empfehlungen = viele Besucher = viele Geschäfte.
Es geht letztlich immer um Geld. Oder Sex – manchmal auch beides, je nach Büro. Manche Büros haben sich auch der religiösen Bekehrung oder anderen obskuren Ideen verschrieben und betreiben ihre Büros als Informations- und Kommunikationsmöglichkeit für Interessierte. Wie die ersten Verwalter sind auch die zweiten völlig neutral, sie empfehlen also immer das, was nach Meinung der Automatismen zur Suche passt. Eine Zensur findet nicht statt (zumindest in unseren Breiten nicht in großem Umfang).
Technik im Hintergrund
Es gibt einige Standardsprachen in dem Bürokomplex, die von allen verstanden wird [z.B. HTML, CSS]. Wer sich also dort aufhalten will, sollte sie auch verstehen. Da jeder Besucher ein Lesegerät dabeihat [= Browser], klappt das auch. Wer keines hat, kann auch nicht in den Bürokomplex. Manche Lesegeräte können etwas mehr und verstehen auch ein paar Sprachen mehr, die nicht allgemeiner Standard sind [z.B. Flash]. Als Bürobetreiber sollte man immer die Sprache sprechen, die alle verstehen und niemanden zwingen, eine neue Sprache zu lernen oder sein Lesegerät zu modifizieren – es sind ja nur Besucher, keine Untermieter! Wie in der echten Welt gehören Sprachen niemanden [HTML und CSS sind allgemeine Standards; Flash ist proprietär und gehört Adobe].
Der Besucher braucht nicht nur ein Lesegerät, das er kostenlos erhält. Er kann dabei aus verschiedenen wählen. Er muss auch irgendwie zum Bürokomplex kommen. Dazu verwendet er ein Taxi [= Provider], das ihn schnell und unkompliziert überallhin bringt. Jedes Taxi verfügt über eine eindeutige Nummer [= IP-Adresse], das hat die Verwaltung so festgelegt. Blöderweise hat die Verwaltung das Schema für die eindeutigen Nummern zu knapp ausgelegt und will jetzt ein neues Nummernschema einführen [= IPv6].
Manche Taxis trage zwar bereits beide Nummern, aber verwaltungstechnisch kann es an einigen Passagen noch Probleme geben, denn das gesamte Verkehrswegesystem leitet die Taxis anhand ihrer Nummern, und nicht an jeder Kreuzung ist die Technik in der Lage, die neuen Nummern ordnungsgemäß zu verstehen. Aber irgendwann sollen alle nur noch die neuen tragen. Da ja alles noch funktioniert und kaum jemand der Besucher von den komplexen Verwaltungsvorgängen direkt betroffen ist, ist der Leidensdruck zu niedrig, dies schnell zu bewerkstelligen – wie jede Verwaltung ist auch diese nicht die schnellste und von zu vielen Elementen abhängig.
Was oft für Verwirrung sorgt, ist die Tatsache, dass das Internet eigentlich eine ganze Reihe von verschiedenen Möglichkeiten umfasst, mit dem Bürokomplex zu interagieren. Man könnte beispielsweise mittels klassischer Rohrpost Nachrichten versenden [Telnet, SSH] oder das integrierte Post-System für kleine Sendungen [POP3, IMAP] oder Pakete [FTP] nutzen. Für solche Aktionen benötigt man auch kein Lesegerät. Allerdings hat es sich heute eingebürgert, mit „Internet“ vor allem den Bereich zu bezeichnen, in dem man mithilfe des Lesegeräts einfach Zugang hat. Das ist so schön einfach zu bedienen.
Disclaimer
Natürlich ist das alles viel komplizierter und komplexer. Aber aus der reinen Nutzerperspektive funktioniert die Analogie und kann so ziemlich alle Problemfälle des Alltags anschaulich erklären.