Dass Apple in der aktuellen iPhone-Generation den bewährten 3,5mm-Klinkenstecker für Kopfhörer entfernt hat, sehen Propheten als Beginn des Apple-Untergangs. Kopfhörer müssen Kabel haben, sonst taugt der Ton nichts! Holen wir mal die Kirche zurück ins Dorf. In allen Argumentationen fallen zwei Hauptvorteile der 3,5mm-Klinkenbuchse immer wieder auf:
- es gibt eine Vielzahl von Geräten (Kopfhörern), die ich anschließen kann
- das Signal wird analog übertragen, ist also sowieso besser (denn Ton ist ja analog und nicht digital)
Beides sind verkürzte Wahrheiten.
3,5mm als Standard für die Ewigkeit?
Ja, es gibt zahllose Kopfhörer verschiedener Hersteller, die ich anschließen kann. Der Anschluss ist sogar so alt und bewährt, dass ich Kopfhörer aus den 1970ern problemlos verwenden kann. Und wenn ich mir heute Kopfhörer mit 3,5mm-Klinkenstecker kaufe, kann ich sie in 50 Jahren auch noch an Geräte anschließen. Doch spätestens der letzte Satz ist eine Lüge, die mehr auf Hoffnung gründet als auf Fakten.
Nur weil etwas lange besteht, ist das kein Beleg für eine sichere Zukunft – Dodo, Dinosaurier, VHS und 70rpm-Schallplatten belegen das. Mir ist es heute sogar unmöglich, einen 15 Jahre alten Röhren-Fernseher ohne Zusatzgeräte zum Anzeigen von Bild- und Tonsignalen zu überreden, an zahlreiche Zusatzgeräte kann ich ihn nicht mal mehr anschließen. Es gab mal eine Zeit, da wurden Fernseher für die gleiche Ewigkeit gebaut wie Kopfhörer. Die technische Obsoleszenz begleitet uns, ob es uns gefällt oder nicht.
Der Verweis auf die Argumente, als Apple im ersten iMac 1998 auf ein Disketten-Laufwerk verzichtete, liefert interessante Gedanken zur Obsoleszenz. Wann ist ein bestimmter Standard oder eine Technologie obsolet? Wenn sie erstens nicht mehr dringend benötigt werden, um das eigentliche Ziel der Nutzung zu erreichen. Und wenn es zweitens akzeptable – und in irgendeiner Hinsicht bessere – Alternativen gibt.
Was ist das Ziel der Kopfhörer-Buchse? Ein Gerät kann einfach daran angeschlossen werden, um das über die Buchse übertragene Tonsignal dann hörbar zu machen, das sind meist Kopfhörer, kleine Lautsprecher oder die Verbindung zu einer Musikanlage.
Was ist das Ziel der Kopfhörer-Buchse in einem Smartphone? Im ersten Moment genau das gleiche wie bei der Kopfhörer-Buchse ohne Smartphone. Aber bei genauerer Betrachtung gibt es einen Unterschied bzw. eine relevante Verengung der Nutzungsziele. Smartphones sind für die mobile Nutzung vorgesehen. Es geht bei den Audio-Nutzungsszenarien primär um die Unterwegsnutzung, beim Spazierengehen, beim Bahnfahren, beim Sport, am Strand oder ähnliches. Für professionelles, ungestörtes und Erlebnis-Musikhören wird man nur selten auf ein Smartphone zurückgreifen.
Welche Alternativen gibt es zur Kopfhörer-Buchse? Im professionellen Audio-Bereich werden bereits sowieso digitale Verbindungen oder Cinch- oder Spezialkabel verwendet. Im Auto und für Freisprechanlagen ist die Verbindung via Bluetooth Standard. Eine weitere Alternative legt Apple den neuen iPhones bei: einen Adapter, um 3,5mm-Klinkenstecker-Kopfhörer mit dem Gerät zu verbinden.
Welche Vorteile haben die Alternativen? Digitale Verbindungen oder Spezialkabel sind optimal auf die professionellen Bedürfnisse ausgerichtet. Bluetooth spart Kabel (inkl. aller damit verbundenen Gefährdungen, Ärgernisse), schafft dafür aber die Verantwortung für das empfangende Gerät (Strom bzw. Ladezustand) und für die Verbindung (Pairing). Dafür ermöglicht Bluetooth einen Rückkanal (den es bei der klassischen 3,5mm-Klinke nicht gibt, weshalb jeder Hersteller dafür seine eigene Lösung entwickelt hat – sooo austauschbar, wie alle behaupten, sind moderne 3,5mm-Kopfhörer nämlich doch nicht), der weitere Nutzungen ermöglicht: Steuerung des Gerätes, Telefonieren, etc.
Wir haben also:
- eine mobile Nutzungssituation
- Alternativen für professionelle Nutzung
- ein etabliertes Angebot an kabelfreien (Bluetooth) Geräten zur Tonwiedergabe mit potenziellen Zusatzfunktionen
Umwandlung digital in analog
Ob das Tonsignal nun innerhalb des Smartphones (vor der 3,5mm-Klinkenbuchse) oder außerhalb (nach Empfang des Bluetooth-Signals) von digital in analog umgewandelt wird, ist eher eine Scheindebatte. Die Tonsignale liegen auf dem Gerät eh digital vor und müssen an irgendeiner Stelle in hörbare Töne umgewandelt werden – der konkrete Ort der Umwandlung ist da theoretisch nebensächlich. Praktisch gibt es einen Unterschied, wie c’t nachgemessen hat: „Die Unterschiede dürften bei analog angeschlossenen Kopfhörern in der Preisklasse ab 100 Euro auffallen. Bei komprimierten Musikstücken (MP3, AAC) dürften die meisten Anwender hingegen kaum einen Unterschied feststellen. Bluetooth-Köpfhörer und digitale Audio-Interfaces sind von der Verschlechterung nicht betroffen.“ Das entspricht ziemlich genau der mehrheitlichen Nutzung der Geräte.
Und in einer weiteren Hörversuchsreihe mit dem Adapter fanden die Redakteure heraus: „Messtechnisch erreicht er gegenüber der eingebauten Buchse eine schlechtere Dynamik. Die ist mit 99,6 dB(A) am iPhone und 102,9 dB(A) am iPad zwar noch immer besser als das, was man gemeinhin als ,CD-Qualität‘ beschreibt … Im normalen Alltag, wenn ein Anwender MP3- oder AAC-Dateien mit ohnehin schon stark komprimierter Pop- oder Rockmusik hört, wird er den Unterschied jedoch nicht bemerken.“
Einziges valides Argument könnte sein, dass zur Übertragung die Tonsignale von einem digitalen Format in ein anderes umgewandelt werden, was theoretische Klangeinbußen beinhaltet. Bei einem Publikum, von dem weniger als fünf Prozent den Unterschied zwischen einer 192kbit-MP3- und einer 128kbit-AAC-Datei hören, bleibt das jedoch eine Scheindebatte. Sollen also 95 Prozent der potenziellen Handy-Nutzer mit einem alten Analog-Anschluss-Standard leben, weil für weniger als fünf Prozent sonst die Welt zusammenbräche?
Ich frage mich, wieso Audiophile ihre Super-Kopfhörer an ein Handy anschließen (müssen) und nicht an ihre professionelle Hifi-Anlage. Ist ein Smartphone wirklich das geeignete Speicher- und Abspielgerät für reinste Audiogenüsse? Oder ist es nicht eher primär eine angenehme Beschallung? Ich vermute, da wird Wunschdenken mit technischer und alltäglicher Realität verwechselt. Wer sich im Alltag akustisch so sehr abriegelt, dass er oder sie tatsächlich den perfekten Audio-Genuss erlebt, gefährdet an den meisten Stellen sich selbst und andere: Auto-Hupen und andere Lebensgeräusche werden nicht mehr wahrgenommen.
Wer professionell Musik machen möchte, wird dies auch eher mit einem professionellen Equipment tun als mit einem Smartphone. Ja, das iPhone gehört zu den Premium-Geräten und, ja, es kann erstaunlich viel, mit den geeigneten Apps auch bei der Musikproduktion unterstützen. Aber, nein, das ist nicht seine Kernkompetenz. Seine Kernkompetenz ist Mobilität. Für viele andere Fälle gibt es andere Geräte, beispielsweise Laptops, die auf die 3,5mm-Klinkenbuchse nicht verzichten müssen; in einem Laptop ist das Platzargument nicht gar so zwingend wie in einem Smartphone.
Ob mit oder ohne 3,5mm – es geht weiter.
Warum die 3,5mm-Klinkenstecker-Debatte gerade so hohe Wogen schlägt, kann wohl nur mit dem Clickbait-Faktor von „Apple“ in den Überschriften erklärt werden. Denn c’t weiß: „Dabei fehlte schon 2008 beim HTC G1, dem ersten Android-Smartphone überhaupt, die Klinkenbuchse. Ebenso wie bei vielen chinesischen Billig-Smartphones und dem Moto Z.“
Wie immer gilt: Das Abendland wird nicht untergehen. Einige werden unter dem Wegfall der 3,5mm-Klinkenbuchse stärker leiden als andere. Für die meisten Nutzer wird sich eine der folgenden Aussagen bewahrheiten:
- Der Adapter erfüllt seinen Zweck im Alltag für Kabel-Kopfhörer. Der messbar schlechtere Klang wird im Alltag gar nicht wahrgenommen.
- Ein Bluetooth-Kopfhörer wird verwendet und dessen Vorteile werden geschätzt (v.a. Rückkanal zur Steuerung).
Für die anderen wird das iPhone eben von der Einkaufsliste verschwinden. Niemand ist gezwungen, ein solches Gerät zu kaufen. Der Markt wird von der Nachfrage geregelt – das ist eine der Maximen des Kapitalismus.
Für alle wird sich die Erde weiterdrehen.