Auf der Suche nach sich selbst, erkennt man den Wert der Netzwerke, in denen man sich bewegt.
Sage mir, mit wem du gehst, und ich sage dir, wer du bist. Unser Umfeld verrät viel über uns, aber nicht alles. Wenn ich aber wissen will, wer ich wirklich bin – wen frage ich dann?
Zu viele verschiedene Identitäten habe ich mir im Laufe meines Lebens zugelegt. Wenn ich vergesse, wer ich bin, schaue ich auf ein Dokument, das mich als Personal der Bundesrepublik Deutschland ausweist. Doch wer ich wirklich bin, verrät mir dieses Stück Plastik nicht – das Foto sieht mir gar nicht ähnlich. Selbst wenn ich alle Informationen, die irgendwo in Behördenschränken über mich aufbewahrt werden, zusammentrage – bin das schon Ich?
In der realen Welt
Meine Freunde und Verwandten wissen es vielleicht. Oder meine Kommilitonen. Vielleicht auch meine Kollegen. Jeder von ihnen sollte ein Stückchen Wahrheit über mich wissen. Das Selbstbild entsteht ja in der Abgrenzung zu anderen. Es wird unterschieden nach Geschlecht, Haarfarbe, Intelligenz, Interessen, Klasse, Toleranzfähigkeit. Je nach meinen Präferenzen gehöre ich zu einigen Gruppen, ignoriere andere und wieder anderen gehöre ich ganz bewusst nicht an.
Jede Gruppe und Interessensgemeinschaft hat inzwischen ihre eigene „social community“ im Internet gegründet, wo ich Gleichgesinnte treffe. Jedes Community-Mitglied gibt sich durch die Teilnahme an ebendieser Community zu erkennen – und auf den Profilseiten noch viel mehr über sich preis. Inzwischen heißt es, dass die freiwillig bei Communitys hinterlassenen Angaben die Stasi weit in den Schatten stellen.
In der virtuellen Welt
Wie auf einem großen Spielplatz hat jeder im Internet natürlich die tollsten Buddelförmchen, sprich die tollste Identität. Da wird viel gespielt, das gehört dazu wie seinerzeit das Cowboy-und-Indianer-Spielen. Online ist die Anzahl der Personen, über deren Akzeptanz, Toleranz oder Ablehnung ich mich identifiziere, gleich noch viel größer. Dazu kommen all die spielerischen Identitäten, die ich mir im Laufe meiner Online-Karriere selbst zugelegt habe. Einige waren bewusst nicht „Ich“, bei anderen musste ich auf die Diskrepanz hingewiesen werden. Das Internet ist kein guter Ort, um zu sich selbst zu finden. Man ist durch die digitalen Ichs förmlich von sich entfremdet.
Natürlich will jeder wahrgenommen, anerkannt, respektiert und geliebt werden, darüber sind sich die Forscher einig und erklären so die Begeisterung für die Online-Communitys. Jeder will kommunizieren, lieben, einer Gruppe angehören und sei es nur dem Eremitenverband.
Bei mir selbst
Ergo zeigt jeder nur seine Schokoladenseiten, ganz wie im wahren Leben. Das fällt auf, wenn man beim Telefonat mit der Mutter in den heimatlichen Dialekt zurückfällt, mit dem Chef dienstliches Hochdeutsch spricht, den Professor mit klug klingenden Floskeln beeindruckt und nur mit den Kumpels beim Bier die Zunge mal lockert. Eine lockere Zunge kann doch aber nicht das wahre Ich sein. Alle meine Identitäten – Sohn, Angestellter, Student, Kumpel – bilden erst die Gesamtidentität.
Über meine Verbindungen zu anderen Menschen in der realen und virtuellen Welt habe ich viel über mich erfahren, in gewisser Weise haben sie mich geprägt und erst zu mir gemacht. Vielleicht denken die anderen auch nur, ich sei Ich. Ich weiß es nicht, aber ich habe mich gefunden: Ich stehe gerade neben mir.
erschienen in „bus“, April 2008 zum Titelthema „Vernetzt“