Endlich ist die DVD eingetroffen. Der Film wirkt deutlich flüssiger als ich ihn aus dem Kino in Erinnerung habe. Die Bilder sind auch irgendwie beeindruckender. Seltsam. An „Parnassus“ lässt sich gut erkennen, was an Terry Gilliams Filmen so unglaublich sehenswert ist – und was sie mitunter so schwer fürs Publikum macht. Gilliams Hauptproblem ist nicht, dass er nichts zu sagen hätte, sondern ein „Zuviel“, das er in seinen Filmen unterbringen möchte.
Im Kino gibt es für mich eine Regel: Ich bin nicht zuhause. Daher kann ich das gebotene Erlebnis voll auskosten. Das bedeutet, ich setze mich so, dass die Leinwand mein gesamtes Blickfeld füllt. Wenn ich das Bildzentrum anvisiere, kann ich den rechten und linken Rand gerade noch im Augenwinkel wahrnehmen. Ich sitze also irgendwo mittig in der vierten, fünften oder sechsten Reihe. Das ist für mich Kino: beeindruckende Bild- und Tonlandschaften, die eine mitreißende Geschichte erzählen.
Hier kommt Dr. Parnassus ins Spiel. Die Bilder sind kollossal, monumental, betäubend, ein wahrer Bilderrausch. Das Auge kann sich kaum erholen (besonders wenn es in der fünften Reihe sitzt). Die Klangwelten sind dementsprechend ebenso beeindruckend, wenn auch vergleichsweise gewöhnlich, entsprechen also dem, was man sonst so gewohnt ist. Nur am Ton könnte man nicht (konnte man das eigentlich jemals?) erkennen, dass man einen Terry-Gilliam-Film sieht.
Zuhause fallen zwei Dinge auf: Manche Dialoge sind zu leise, andere Geräuschkulissen zu laut. Dafür funktionieren jetzt die Bilderwelten und wissen wahrlich zu berauschen. Im Kino ging alles viel zu schnell, man hatte sich kaum an einem Bild sattgesehen, da war man schon mindestens eine beeindruckende Szene weiter.
Bei „Sleepy Hollow“ von Tim Burton (1999) war mir dieser Effekt erstmals aufgefallen: Im Fernsehen wirkte der Film deutlich besser, flüssiger, harmonischer, ausgewogener, beeindruckender als im Kino. Ein möglicher Ausweg: Ich muss mir im Kino eine andere Sitzposition suchen. Aber dann kann ich auch warten, bis ein Film auf DVD rauskommt und brauche nicht ins Kino zu gehen, wenn der Film letztlich nicht sooo viel größer als auf dem heimischen Fernseher ist. Mit 5.1-Surround-Ton ist ja akustisch zuhause schon fast Kino-Feeling eingezogen. Problem am Ausweg: Ich geh eigentlich gern ins Kino. Auch wenn inzwischen eine Eintrittskarte nur unwesentlich billiger als eine DVD ist.
Beim Audio-Kommentar zu „Garden State“ von Zach Braff (2004) berichtet er, dass sie den größten aller möglichen Fernseher für die Produktion besorgt haben, um die Tagesmuster anzuschauen. Und dieser Film wirkt im Kino deutlich besser aufgehoben als Parnassus und Sleepy Hollow. Ich habe den Verdacht, dass ja die gesamte Film-Produktion nur mit mittelgroßen Bildschirmen arbeitet und dadurch die Macher eine Ästhetik entwickeln, die eher fernseh- als kinotauglich ist.
Nach dieser grundsätzlichen allgemeinen Zustandsbeobachtung bleiben nur noch drei Dinge zu sagen. Zum einen ist Dr. Parnassus ein flotter, fröhlicher Film, der tatsächlich Spaß macht, weil er immer wieder böse Haken schlägt (v.a. in Tonys Figurentwicklung). Zum zweiten kommt der Aspekt des Geschichtenerzählens bzw. über die Macht der Fantasie nicht halb so stark rüber, wie Gilliam es im Vorfeld behauptet hat. Zum dritten haben alle, die den Film bejubeln, recht.
Gerade der zweite Punkt enttäuscht ein wenig. Denn bei Tonys dritten Aufenthalt hinter dem Spiegel verschwimmen Fantasie- und reale Welt in einem beeindruckenden, eindrücklichen Bildersog, und beide sind so stark miteinander durchdrungen, dass eine Unterscheidung unmöglich wird. Das verwässert die Aussage, denn um eine Geschichte zu erzählen, um eine Fantasie-Welt zu würdigen, muss diese von der realen Welt abgegrenzt sein und bleiben und sie allenfalls durch ihre Wirkung auf Menschen beeinflussen.
Eigentlich, und das ist die enttäuschendste Erkenntnis, erzählt Gilliam die gleiche Grundgeschichte wie 1988 in „Baron Munchhausen“, wenn des Barons Fantastereien mit der bitteren Realität der aufgeklärten Welt kollidieren. Munchhausen ist in dieser Hinsicht der stärkere, überzeugendere und unterhaltsamere Film. Darüber können auch die visuellen Extravaganzen des Dr. Parnassus leider nicht hinwegtäuschen.
Munchhausen bleibt in meiner persönlichen Top Ten. Parnassus wird zwar noch das eine und andere Mal im DVD-Player rotieren, mehr aber auch nicht. Vielleicht liegt es auch nur daran, dass meine Erwartungen an einen Gilliam-Film mit jedem Anschauen von Munchhausen weiter steigen.
Weitere Beobachtungen zu Gilliam-Filmen
Parnassus hat im Wesentlichen drei Hauptmotive:
- den wettenden Parnassus als Faust-Motiv
- den Wettstreit zwischen Fantasie- und Realwelt (oder zwischen Schein und Sein bei Tony)
- die „ewige Geschichte“, die immer weitergeht
- als Quasi-Zusatzmotive:
- die Entscheidung jeder Person zum Guten oder Schlechten (freier Wille ./. Bequemlichkeit) in der Welt hinter dem Spiegel
- die Welt hinter dem Spiegel als Anderswelt (nicht im Carrolschen Sinne), sondern als unverblümte direkte Entsprechung der Seelenwelt (durch die Visualisierung wird die Leere der Personen stellvertretend für heutige Wertvorstellungen deutlich = Kapitalismuskritik)
Während das zweitgenannte Motiv tatsächlich halbwegs stringent durchgezogen ist (wenn auch nicht so stringent wie in Münchhausen), so wissen das erste und dritte Motiv nicht zu überzeugen. Der „Mr. Nick“ (Tom Waits) als Mephisto-Ersatz bleibt konturlos und wirkt unbefriedigend unmotiviert. Die nicht-aufhaltbare Geschichte wird eigentlich nur im Kloster tatsächlich thematisiert, für den restlichen Film ist dieser Aspekt folgenlos.
Man könnte beklagen, dass Terry Gilliam ein starker Widerpart in der Produktion fehlte, an dem er sich hätte reiben können. Trotz aller Ärgernisse mit Münchhausen (Buchtipp: Losing the Light: Terry Gilliam and the Munchausen Saga) hatte Terry Gilliam durch die Produktionsbedingungen die kreative Herausforderung, stets ganz klare Prioritäten setzen zu müssen. Das kam dem Fokus der Story und der Entwicklung der Figuren zugute, denn alles „Überflüssige“ wurde eliminiert. Bei „Brazil“ stand Gilliam mit dem Autor Tom Stoppard ein qualifizierter „Gegner“ zur Seite, der half, die elementaren Grundaussagen zu festigen. Das Budget war angemessen, aber nicht überschwänglich, sodass jede zusätzliche Idee zu rechtfertigen war. Bei „König der Fischer“ gab es eine präzise Story mit klaren Motiven und ein exakt darauf abgestimmtes Drehbuch, ebenso bei „Fear and Loathing in Las Vegas“ sowie „Twelve Monkeys“. Im positivsten aller möglichen Sinne war Gilliam bei diesen nur als Ästhet und visueller Regisseur gefragt – in allen drei Fällen überzeugte er mit intelligentem Kino, das gleichermaßen visuell zu beeindrucken weiß.
Schlimm und holprig wird es, wenn er selbst hauptverantwortlich für das Drehbuch ist, und ein starker Gegner fehlt, der ihn zwingt, dem Film einen klaren Hauptfokus zu geben und alle Elemente auf die Nützlichkeit bzw. Notwendigkeit für diesen zu prüfen (also klare Prioritäten zu setzen). „Jabberwocky“ und „Time Bandits“ sind dafür gute Beispiele, denn obwohl sie jeweils überzeugen können („Time Bandits“ v.a. in der letzten halben Stunde – Wow!), fehlt es ihnen an einer kohärenten Story. Gilliam will zu viel, bringt zu viel, und darunter leidet die Hauptstory bzw. der Film wird zur unharmonischen Nummernrevue. Am ärgerlichsten ist dies bei „Brothers Grimm“, wo das Budget großzügig war, das Drehbuch aber nicht so viel zu taugen schien bzw. eben keinen klaren Fokus bzw. Hauptmotiv erkennen ließ.
All das fällt besonders auf, wenn man sich „Tideland“ ansieht. Man muss diesen Film nicht mögen, aber er demonstriert sehr eindrücklich, wie gut Gilliam auch mit minimalen Produktionsbedingungen arbeiten kann, wenn die Story klar und das Hauptmotiv eindeutig sind.
Gilliam – das muss klargestellt werden – ist kein unzuverlässiger Regisseur. Er hat nur bei „Münchhausen“ das Budget überschritten, was daran lag, dass jeder ihm sagte, er würde mindestens 45 Millionen Dollar benötigen, besser 60. Sein Produzent meinte, man könnte auch mit 28,5 Millionen Dollar den Film fertigstellen. Der Regisseur glaubte dem Produzenten. Letztlich wurde der Film mit allen Nachbudgetierungen für ziemlich genau die Summe fertiggestellt, die ursprünglich von Realisten kalkuliert worden war.
Gilliam ist ein aufregender Regisseur – in jedem Wortsinn. Für das Publikum ist es aufregend und interessant, welche visuellen Finessen er sich ausgedacht hat. Für Produzenten ist er aufregend, weil er eigene Visionen hat und für diese kämpft (Buchtipp: The Battle of Brazil: Terry Gilliam V. Universal Pictures in the Fight to the Final Cut)). Jedoch, und das muss leider festgestellt werden, verliert er sich gern zu sehr in seinen eigenen Ideen. Deshalb sind seine besten Filme die, in denen er mit einem Partner zusammenarbeitet bzw. von Umständen gezwungen wird, sich auf das Wesentliche eines Filmes zu konzentrieren. Gilliam liebt das „Noch mehr“, und in der Reibung mit einem anderen kann aus der Gefahr des „Zuviel“ dann ein tatsächlicher Zugewinn für den Film entstehen.
Parnassus enthält quasi drei Handlungsstränge bzw. Story-Motive, die jeweils gut für einen eigenen Film getaugt hätten. Parnassus leidet nicht an einem Zuwenig von Irgendetwas, sondern an einem Zuviel von Ideen. Darunter leidet der Film insgesamt.
Ich hoffe, dass sein langgehegtes Don-Quichote-Projekt nicht unter dem selben Problem des Zuviel leidet, sondern eher in die selbe Kategorie wie Brazil und Münchhausen fällt: wenige klare Hauptmotive, die den gesamten Film zusammenhalten und denen sich alle zusätzlichen Ideen unterordnen.
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