Die neue Technik macht es möglich. Heute ist alles viel bunter, detaillierter auf unseren virtuellen Schreibtischen. In den Anfangsjahren der grafischen Benutzeroberflächen kämpfte man um jedes Bit und jedes Byte. Icons waren beispielsweise auf 32 Pixel Kantenlänge begrenzt. Da die Icons jedoch teilweise sehr komplexe Dinge repräsentieren sollten, waren es oft abstrakte Abbildungen, mühsam und um jedes Detail bemüht von Hand gepixelt.
So manche Konvention war notwendig, um die Icons wenigstens halbwegs eindeutig zu gestalten.
Es gab nicht nur für die verschiedenen Darstellungen auf dem Monitor (als Liste oder große Symbole) jeweils Varianten mit 16 und 32 Pixel Kantenbreite, sondern auch an die begrenzten Möglichkeiten, Farbe darzustellen, musste beim Entwerfen gedacht werden. Die abgeknickte Ecke eines hochkant stehenden Rechteckes beispielsweise hat sich als Symbol für ein Dokument rasch etabliert. Der freie Raum innerhalb des Rechteckes diente dann der weiteren Ausdifferenzierung. Dort konnte beispielsweise das Programm-Icon wieder auftauchen. Die Icons oben erinnern an Dokument-Icons, stellen aber so genannte Vorlagen dar, abstrakt gesehen logisch.
Heutzutage, wo sogar ganze Filme aus dem Computer kommen, ist diese Beschränkung technisch nicht mehr gegeben. Hyperreal ist die Welt, in der uns die Computer arbeiten lassen können. Ich habe mir einfach mal die Icons für Browser, Mail und Adreßbuch von Mac OS X herausgegriffen.
Schön nicht. Zumindest in der vollen Größe von 128 Pixeln Kantenlänge – das sind mehr als 10 Prozent meiner Bildschirmbreite! Der Kompaß als abstrakte Verknüpfung zum Herumsurfen in der Welt, die Briefmarke für die elektronische Post und ein in edles Leder gebundenes Adreßbüchlein. Kurz zur Abstraktion: Der Kompaß erinnert mich auch wegen seiner Farbe eher an eine Reise auf dem Meer. Die Briefmarke könnte auch ein Programm zum Verwalten meiner Sammlung sein. Nun gut, zu dem @-Buch fällt mir nichts ungekrampftes ein. Hier werden also gegenständliche Dinge für abstrakte Konzepte verwendet. Nur gibt es leider keine gegenständlichen Entsprechungen für das Internetbrowsen und eMailschreiben.
Problem Nummer 2 wird deutlich, wenn wir uns die sehr ansprechenden Icons einmal in der gewöhnlichen Größe von 32 Pixeln anschauen.
Da ist nicht mehr viel übrig von der Gestaltungskunst, ja der Kompaß sieht schon eher wie eine Taschenuhr aus und auch die Briefmarke könnte durchaus auch etwas ganz anderes sein. Die Zacken sind kaum zu erkennen und der Stempel rettet auch nicht viel. Es könnte einfach ein schiefes Foto sein. Zumal es immer noch keine rationale Erklärung für den Vogel gibt. Das Icon besteht also zu einem großen Teil aus einem Motiv, das mit der Bedeutung eigentlich gar nichts zu tun hat. Denn ich dachte auch immer, es gäbe vorwiegend berühmte Köpfe oder Bauwerke auf den kleinen Klebezetteln zu sehen. Das Adressbuch hält sich ganz gut, auch wenn das @ mehr zu erraten denn zu lesen ist.
Und so sieht die ganz normale Listenansicht aus. Wenn der Name nicht dahinter stünde, wer könnte auf Anhieb das richtige Programm erwischen?
So schön es sein mag, dass jetzt alles realistisch aussehen kann – die resultierenden Probleme unterstreichen die Notwendigkeit des klugen Umgangs mit den Möglichkeiten. In der Realität sind relevante Details wie die Briefmarkenzacken halt nicht so deutlich ausgeprägt, dass sie bei kleiner Darstellung noch zu erkennen wären. Nicht umsonst hat sich lange der Briefumschlag, der sich wesentlich besser abstrahieren läßt, als Zeichen für eMail-Programme gehalten. Wer erkennt in der Liste noch ein Detail des ehemaligen Icons »Internet Verbindung« (jetzt sieht es anders aus: eine leuchtende Kugel mit Ethernet-Anschluß)? Ein gelbes Buch mit sowohl der Aufschrift »www« als auch einer silbrigen Weltkugel und dazu ein Telefonhörer.
Hier zum Vergleich noch die Icons aus dem klassischen MacOS. Sowohl bei »eMail« als auch bei Outlook ist der Briefumschlag deutlich und auch bei 16 Pixel Größe noch eindeutig zu erkennen. Beim Browser sieht es noch besser aus. Der Internet Explorer versucht gar nicht erst, gegenständlich zu sein, sondern läßt seinen Anfangsbuchstaben von einem Strahl umkreisen. Als Icon hundertprozentig gelungen. Es weckt keine falschen Assoziationen und ist rasch wiederzuerkennen.
Der Netscape Navigator bediente sich schon Anfang der 90er der nautischen Metapher mit Leuchtturm, Steuerrad und Sternenflug (ob sich Apple für Safari hier inspiriert hat?). Sowohl Leuchtturm als auch Steuerrad waren insofern eindeutig als es keine vernünftige Sinndeutung ergeben hätte, sie nautisch zu verstehen. Vielmehr versinnbildlichten sie einerseits die Orientierung (Leuchtturm) andererseits die Aktivität des Nutzers (Steuerrad) im Internet. In Anlehnung an den Konkurrenten Internet Explorer wurde Ende der 90er Jahre dann das Icon mit dem großen N forciert. Immer noch eindeutig und fast so gut wie der Rivale. Weiterer Pluspunkt für beide: Jeder verwendet genau eine Basisfarbe und weicht nur in der Helligkeit davon ab.
Safari mit dem Kompaß paßt auch zu Gebirgswanderungen und ist mit dem metallischen Rahmen und der roten Nadel eher desorientierend. Denn: welche Bedeutung hat das Material der Kompaßfassung für das Symbol eines Kompaß’? Die Icons erhalten eine fotografische Informationsfülle, die von der eigentlichen Aussage ablenkt und die Funktion eines Symbols (!!!) ad absurdum führt.
Es gibt bei der Iconfactory einen Iconsatz namens Clipper, der sich an den Apple-Symbolen orientiert, sie aber noch einmal deutlich stilisiert. Besondere Beachtung verdienen die Icons zu Mail (ohne den Vogel!) und Adressbuch (stärkerer Kontrast).
Stilisierung scheint also weiterhin ihre Berechtigung zu haben. Denn ein konkretes Ding steht für sich selbst, während ein abstraktes Ding für etwas anderes steht – nämlich ein Symbol ist. Daher sollten die Icons auch ihre Symbolhaftigkeit nicht leugnen und vorgeben, etwas zu sein, was sie per se nicht sind.
Die klassischen Mac-Icons (Figure XX) sind aus „Macintosh Human Interface Guidelines“ von Apple, 1992 entnommen, die anderen Icons sind Screenshots.Update [06/2016]
Die Icons der Folge-Versionen von Mac OS X wurden wieder etwas abstrakter. Trotz nun vorhandener Retina-Displays kehrte Apple zu einem Design zwischen Hyper-Fotorealismus und Pixel-Abstraktion zurück. Das betont den metaphorischen Gehalt und erleichtert die Unterscheidbarkeit.