Einleitung
Die Frage, ob man den Text „Herzog Ernst“ [f1]1 :: Mit „Herzog Ernst“ ist auch im folgenden die Fassung B gemeint (in der Ausgabe Mittelhochdeutsch/Neuhoch-deutsch, herausgegeben von Bernhard Sowinski, Stuttgart 1979); Hervorhebungen in den Zitaten sind stets von mir.
2 :: Jürgen Kühnel führt diese Zweiteilung in „Zur Struktur des Herzog Ernst“ (in Euphosion 73, 1979, S. 248ff) weiter aus.
3 :: Monika Schulz leugnet zwar eine Wandlung des Herzogs in ihrem Artikel „âne rede und âne reht“ (in „Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur“, Tübingen 120, 1998, S. 395 ff), jedoch ist nach meinem Leseeindruck die Frage nicht unberechtigt. in mindestens zwei Handlungsabschnitte gliedern kann, kann als positiv beantwortet vorausgesetzt werden [f2]. Kann man nun auch die Entwicklung – so es sie gibt – von Ernst in mindestens zwei Abschnitte einteilen? [f3] Beim Durchlesen des Textes scheint es so. Da wären zum einen die Ereignisse im deutschen Reich unter Kaiser Otto und zum anderen die Abenteuer in der Fremde. Diese könnten, der Übersicht halber, noch einmal unterteilt werden. Ich habe mich für die Durchreiseetappe Grippia als zweiten Abschnitt und den Aufenthalt in Arimaspi als dritten entschieden. Die konkrete Aufteilung am Text wird im Rahmen dieser Ausarbeitung dargelegt und nachvollziehbar gemacht.
Das Augenmerk bei der Behandlung des Textes liegt hier auf Herzog Ernst und dem von ihm verkörperten Ideal [f4]4 :: Der unbekannte Autor bezeichnet Ernst bereits in Vers 3 als „guoten knehte“. Auch in allen im Heimatlande spielenden Versen wird Ernst durchweg positiv geschildert und mit positiven Attributen versehen. Der Autor schien also mit dieser Figur, da er sie so positiv bewertet, seine Vorstellung eines idealen Herzoges, respektive Ritters vermitteln zu wollen.. Vollzieht dieses eine Entwicklung? Die daraus resultierenden Handlungen und deren Motivation müssen dabei besondere Berücksichtigung finden. Häufig agiert er in irgendeiner Form gewalttätig. Es wird also unter anderem zu untersuchen sein, inwiefern sich das dargestellte Ideal und die Gewalt gegenseitig bedingen. Die eingangs skizzierten Handlungsabschnitte bieten dabei eine Orientierung, da m.E. eine auch in diesem Dreierschritt verlaufende Veränderung der Figur Ernst erkennbar ist.
Nicht unerheblich ist die Zeichnung der Nebenfiguren, liefern sie doch den Hintergrund, vor dem sich das Ernst-Bild erst entfalten kann. Besondere Beachtung finden dabei Pfalzgraf Heinrich als Verleumder, Kaiser Otto als Feudalherr im deutschen Reich und der Kaiser in Arimaspi sowie Graf Wetzel als Begleiter, Ratgeber und Helfer Ernsts.
Der Text wird im folgenden als imaginierte Realität angenommen und die darin geschilderten Ereignisse, Personen, Zustände als gegeben behandelt. Die Frage nach literarischer Qualität, Realismus, Vermögen des Autors etc. stellt sich daher nicht. Ergo kann nur zur Kenntnis genommen werden, was die geschilderte Realitätsfiktion in irgendeiner Form bricht bzw. nicht mit dem vorher Geschilderten korrespondiert.
Das Ideal im eigenen Land
„der helt vil lobesam“ (V. 137) lernte Italienisch und Latein (V. 70f), verbrachte einige „Studienjahre“ im Ausland (V. 72-77) und empfing schließlich die Schwertleite (V. 118f). Diese verpflichtet auf einen Waffengebrauch zur Verteidigung der Kirche, des christlichen Glaubens und zum Schutz von Witwen und Waisen, sie lieferte also eine „religiös-ethische Begründung des Waffengebrauchs“ [f5]5 :: Nach „Kultur und Gesellschaft, höfische“ von Joachim Bumke in „Lexikon des Mittelalters“, hrsg. von Norbert Angermann, Robert-Henri Bautier, München 1995, Band 4, S. 1565ff.
6 :: Bei der Bewertung von milte, triuwe und ere beziehe ich mich auf das im Seminar Erarbeitete. Wo sinnvoll, werden im folgenden die mhd. Begriffe, ohne besondere Kennzeichnung, verwendet.. Die Kombination von Bildung und körperlicher Beherrschung ist für Adlige zweifelsohne erstrebenswert, und Ernst hat sich auf beiden Gebieten Ansehen erworben (V. 78, 84f, V. 93 sowie V142ff). Ebenso mehrte er sein Ansehen (ere) durch bereitwilliges Geben (milte) (V 152f-158) [f6].
Doch was geschieht nun, wenn sein Ansehen gemindert werden soll, wovor er sich fürchtet (V. 97)? Der Pfalzgraf Heinrich, der „mit valsch âne riuwe“ (V. 674) Ernst beim Kaiser verleumdet, argumentiert mit der ere des Kaisers. Viermal erscheint das Wort in Heinrichs erster Rede (V. 680 – 716). Der Kaiser weist diese Anschuldigungen mit dem Verweis auf die triuwe zurück. Viermal taucht dieses Wort in seiner Gegenrede (V. 718 – 743) auf. Heinrich argumentiert eindeutig in Bezug auf Ansehen, während der Kaiser den Rechtsbegriff der triuwe dagegenhält. Also macht sich Heinrich die Argumentationslogik des Kaisers zu eigen und kombiniert sie mit seiner eigenen. In seiner zweiten Rede (V. 749 – 796) erscheinen beide Begriffe je dreimal, und diesmal vermag er, Otto zu überzeugen. Nicht ohne Wirkung dürfte außerdem die Tatsache sein, dass sich Heinrich nun auf die höchste Wahrheitsinstanz beruft: „Owê mir vil armen, daz müeze got erbarmen“ (V. 749f). Die Sympathiewerte sind vom Autor eindeutig zuungunsten von Heinrich verteilt, handelt er doch „als imz der tiufel riet“ (V. 650), also im Sinne des göttlichen Gegenspielers.
Recht
Was dem Kaiser vorher in Magdeburg gelang (den Teufel bezwang er ohne Waffen, V. 204 – 207), bleibt ihm hier verwehrt. Den Eingebungen des vom Teufel beratenen Heinrichs folgend, startet er einen Feldzug gegen Ernst. Dieser verzichtet gemäß dem Rat Wetzels (V. 919 – 944) auf Gegenwehr und sucht, das Unheil gewaltlos abzuwenden, eine Entscheidung durch eine ordentliche Rechtsinstanz (Anhörung) herbeizuführen. Seine Mutter bittet für ihn, die Fürsten bitten für ihn – doch beide Male reagiert der Kaiser höchst unwillig. Da Ernst nun seinen Vorrat an Rechtsmitteln ausgeschöpft hat, bleibt ihm nichts weiter als die Aktion respektive Gewalt.[f7]7 :: Monika Schulz hat in o.g. Artikel die historische Situation des Rechtes ausführlich dargestellt.
8 :: Die potenzielle Möglichkeit, das Land sofort zu verlassen, hätte zwar Ehrverlust aber auch Leidensersparung bedeutet.
Ernsts Verhalten, zuerst Versuch der Schlichtung und erst bei Misserfolg Aktion, ist insofern bemerkenswert, da er Verluste, zwar im Wissen auf deren Ersetzbarkeit durch den Kaiser, hinnimmt, die er jedoch hätte vermeiden können [f8]. Dennoch hält er sich an das bestehende Recht. Da aber der Kaiser sich nicht daran hält und sich zweimal weigert, Ernst anzuhören, ist eine Nichtbeachtung des Rechtes gerechtfertigt. Da ja der Kaiser nun das Recht nicht wahrt, das er in seiner Rede gegen Heinrich noch so betonte, braucht es Ernst auch nicht. Zumindest ist so die innere Logik des weiteren Geschehens.
Verwunderlich ist der Bruch mit der uneingeschränkt positiven Charakterisierung des Kaisers (V. 228-233), und außerdem: „er schuof den aller besten fride…“ (V. 192ff). Warum ist er jetzt so unzugänglich und verhindert sogar ein Fortbestehen des von ihm geschaffenen Friedens? Ist seine ere, seine Macht so sehr bedroht? Oder anders herum: ist der Kaiser so wenig mehr mächtig als Ernst, dass dieser ihm eine reale Gefahr dünkt? Oder ist auch ein Kaiser durch die Worte des Teufels, in Gestalt des Pfalzgrafen vorgetragen, so leicht verführbar, kann die bestehende Ordnung so leicht ins Wanken geraten? Ergibt sich daraus nicht die Frage, ob das bestehende Gefüge von Recht und Macht überdacht werden müsste. Oder wieder anders herum: Kann eine Gesellschaft fortbestehen, die so leicht zu erschüttern ist? Zeichnet sich hier bereits die Notwendigkeit ab, dass ein neues Ideal geschaffen werden muss? Welche Rolle wird der Gegner des Teufels, Gott, dabei spielen?
Rache
In einer weiten Begriffsauslegung kann man die Reaktion des Kaisers als Rache ansehen. Als Rache auf drohenden Ehrverlust [f9].9 :: Rache ist im Mittelalter ein wesentliches, uneingeschränktes Verhaltensmuster. Jeder, dessen ere beeinträchtigt wird, kann Rache üben, mit zwei Ergänzungen: Frauen sind rechtlich nicht rachefähig und die Rache kann bzw. muss von der ganzen Sippe/clan ausgeübt werden, was nicht selten in Blutfehden endet. Zum Rachebegriff: „Ehre und Mut, Âventiure und Minne: höfische Wortgeschichten aus dem Mittelalter“, Otfried Ehrismann, 1995 München, S. 154 ff.
10 :: Wobei nicht außer Acht gelassen werden sollte, dass Ernst nach Heinrichs Argumentation eine Gefährdung für das riche darstelle, also durch die Gefährdung des Kaisers eine Gefährdung des riche von ihm ausgehe. Damit ist sein Handeln in gewisser Weise gerechtfertigt, als Herrscher und Rechtsinhaber bzw. oberste Rechtsinstanz hätte er jedoch zu prüfen, inwieweit eine rachewerte Handlung vorlag. Seine persönlichen Ehrgefühle wertet er höher als das Reich, denn erstere rächt er, zweites gefährdet er dadurch [f10]. Ernst handelt da vorbildlicher. Sein Nürnberg wird belagert und er dringt immer noch auf Schlichtung. Erst als ihm diese rigoros verwehrt wird, greift er zum Schwert.
In einem heimtückischen Anschlag rächt er sich am Pfalzgrafen. Der Kaiser kann ihm in eine Kapelle (die ja ein Ort Gottes ist) entkommen. Die Frage, wer mehr Schuld hat am nun ausbrechenden Krieg, kann nicht beantwortet werden. Der Pfalzgraf hat den Tod verdient und erhalten, so die Argumentation des Textes. Doch den Kaiser töten zu wollen, ist zwar verständlich, aber schändlich. Zumal dies wiederum Ernsts bisherigem Verhalten, das auf Ehrerhalt, Recht und Ordnung achtete, zuwiderläuft. Und darüberhinaus den Kaiser darin bestätigt, dass Ernst ihn beseitigen wolle, womit es ihm ein leichtes ist, die Reichsacht über ihn zu verhängen.
Eine spannende Racherede Ernsts (V. 1294 – 1315) verdeutlicht seine Motivation und Argumentation. Demnach machte sich der Kaiser schuldig, einem „ungetriuwen rât“ (V. 1313) zu folgen und ihm galt daher in erster Linie Ernsts Rachewunsch. In dieser Logik ist einiges fragwürdig. Vasallen waren dem Lehnsherren zu Rat und Hilfe (consilium et auxilium) verpflichtet (triuwe). Ernst hat sich als Ratgeber hervorgetan und bewährt (V. 615 – 624). Doch woher hätte der Kaiser wissen können, dass er nun einem ungetriuwen rat folgte, zumal ihm gute Argumente [f11]11 :: Der Pfalzgraf wies bereits darauf hin, dass Ernst die Anschuldigungen leugnen würde, welchen Wert hätte seine Aussage also gehabt? Auch nannte er eine anonyme, aber sichere Quelle (V. 702 – 706, V. 776 – 779). gegeben waren, die Anschuldigungen zu glauben? Auch ist die Motivation, warum denn ein so guter Ritter, als der Ernst bis hierher mehrfach geschildert wurde, plötzlich den Kaiser umbringen (Königsmord!) will, nicht wirklich klar. Man kann leicht argumentieren, Ernst fühle sich einem höheren Ideal verpflichtet, das der Kaiser verletzt habe. Allerdings widerspricht dem Ernsts Sorge um den Verlust seines Ansehens auf Erden (V. 97). Er kann m.E. nicht einerseits einer „höheren“ Ordnung verpflichtet sein und andererseits die „niedere“ Ordnung ausleben.
Gewalt
Bis zur Verleumdung herrscht „aller beste[n] fride“ (V. 192). Die Gewaltausübung des Kaisers und Pfalzgrafen gegen Nürnberg beantwortet Ernst mit Gewaltverzicht. Er will gewaltlos reagieren und bittet erfolglos um Gehör. Erst als der Kaiser all seine Macht (Gewalt) gegenüber Ernsts Mutter und den Fürsten ausspielt, und eine gewaltlose Lösung unmöglich ist, trachtet Ernst nach Gewaltausübung. Seine Gewalt soll dem gelten, der ihm die Gewaltlosigkeit verwehrte: er will den Kaiser töten, erwischt aber „nur“ den Anstifter, Pfalzgraf Heinrich [f12].12 :: Auch wenn man berücksichtigen muss, dass sein Racheschwur (V. 1200 – 1242) eigentlich Heinrich gilt, so spricht er nach erfolgter Rache davon, dass er den Kaiser hätte treffen wollen. Inwieweit hier eine Inkonsequenz des Autors vorlag, soll, wie eingangs gesagt, nicht weiter ausgeführt werden. Nach der Verhängung der Reichsacht über Ernst und seine Getreuen, wird Regensburg belagert, wo auf beiden Seiten Verluste zu beklagen sind. Schließlich gibt die Stadt, nach Ernsts Rat, auf und zieht die Inbesitznahme durch den Kaiser weiterer Gewaltausübung vor. Ernst und der Kaiser liefern sich schließlich einen mehrjährigen Krieg, in dem jeder Besitz des andern zerstört, bis Ernst schließlich keine Mittel mehr hat und zum Kreuzzug aufbricht.
Auffallend ist, dass Gewaltverzicht stets von Ernst ausgeht (er will schlichten, schlägt die Aufgabe Regensburgs vor, verlässt das Land des Krieges). Und als er Gewalt ausübt, geschieht es sehr bewusst und zielgerichtet: „nâch im [dem entwischten Kaiser] stuont mîns herzen gir“ (V. 1296). Und als er die Brandschatzungen Ottos erwidert, da „dem künige er vaste zuo reit“ (V. 1710). Um dies in ein Bild zu packen: der Kaiser schießt eine Schrotflinte in die Gegend ab, wo er Ernst treffen kann. Ernst schießt sehr genau mit einer einzelnen Kugel auf den Kaiser. Hier stehen sich also zwei verschiedene Ansichten über Angemessenheit, Zielrichtung, Rechtfertigung, (Rache)Wirkung von Gewalt gegenüber.
Das Ideal an der Grenze
Nach längerer Reise gelangt Ernst in das Land Grippia [f13].13 :: Nebenbei die längste Episode im ganzen „Herzog Ernst“; an keiner anderen Stelle wird soviel Erzählzeit für so wenig erzählte Zeit geopfert, von allen Stellen ist diese (V. 2177 – 3882) am ehesten in „Echtzeit“ und ungerafftesten, wobei dieser Abschnitt vorwiegend durch die umfangreichen Beschreibungen gestreckt wird, die in den anderen Abschnitten vergleichsweise knapp ausfallen. Die verlassene Stadt weckt in Ernst Argwohn. Der durch Heimtücke Geschädigte und Vertriebene ist jetzt übereifrig, in keine Falle zu geraten. So bestätigt er noch einmal die gute Ausrüstung und Gewaltbereitschaft (V. 2334 – 2352, besonders V. 2347: „daz wizzet, recken, mit gewalt“), um zu erwartender Feindseligkeit gebührend begegnen zu können.
In diesem Abschnitt verhält sich Ernst bei seinem zweiten Besuch der Stadt keineswegs ideal. Doch diese Defizite wird er im weiteren Verlauf ausgleichen und sich der christlichen Ethik zuwenden. Hier jedenfalls besitzt er noch nicht die Demut und Anerkenntnis bzw. Würdigung von Gottes Schöpfung und Geschöpfen, die ihm ab der Flucht von Grippias Küste eigen sein wird.
Recht
Nur Mundraub wollen Ernst und seine Mannen in dieser fremden Stadt begehen. Ein minder schweres Vergehen, was durch die Ausdrücklichkeit des Ausschlusses anderer Vergehen auch noch positiv konnotiert wird (V. 2400ff). Nachdem die Nahrungsfrage zu aller Zufriedenheit gelöst wurde, beschließt Ernst, sich die Stadt noch einmal genau anzusehen, aus Neugier, curiositas. Dabei überkommt ihn die superbia, Überheblichkeit, so zumindest mein Leseeindruck. Er besieht sich die Stadt wie deren Bezwinger und nimmt schließlich ein Bad, was den Tatbestand des Hausfriedensbruches mit einschließt. Die feindselige Reaktion der Grippianer gegen ihn ist also mehr als gerechtfertigt, drang er doch in ihre privaten Räume (das Bad und Schlafzimmer) ein [f14].14 :: Die „Heiligkeit“ der eigenen vier Wände und deren Rechts- und moralischer Status wurden im Seminar erarbeitet. Die rechtliche Bedeutung der eigenen vier Wände wird auch in anderen Texten deutlich, beispielsweise in „Ein kurtzweilig Lesen von Dil Ulenspiegel“ (hrsg. von Wolfgang Lindow, Stuttgart 1978), „Die 25. Histori“, wo der Landesfürst Eulenspiegel nichts anhaben kann, da dieser in seinem eigenen Hause steht.
15 :: Dass die Prinzessin der Rache auch würdig ist, beweist ihre Rede (V. 3503 – 3574). In den Teilen, in denen sie sich direkt an Ernst wendet (Anfang und Ende der Rede), ist got bzw. trähtin schon wieder sehr präsent, fünfmal wird Er erwähnt.
Ernsts und Wetzels Gewaltanwendung gegen die Grippianer rechtfertigen sie mit der Rache, zu der sie sich verpflichtet fühlen (V. 3438), wobei Ernst den Racheschwur mit der Bekräftigung auf Gott verstärkt (V. 3468f) [f15]. Sie übernehmen also die Aufgabe des clans der indischen Prinzessin, ihr Unglück zu rächen. Somit wird ihre hehre Gesinnung und auch ihre Ausübung von Gewalt nicht fragwürdig, ist doch die Rache und deren Notwendigkeit allgemein akzeptiert (s.o.).
Gewalt
Als struktureller Unterschied zur Gewalt im ersten Abschnitt lässt sich festhalten, dass der Leser jetzt direkter ins Geschehen hineingezogen wird. Das geschieht zum einen dadurch, dass Ernst und Wetzel anfangs allein gegen die Übermacht der Grippianer kämpfen, somit liegt der Fokus direkt auf dem Geschehen, in dem sich diese beiden befinden, das dadurch nicht abstrakt und übersichtlich wie im ersten Abschnitt dargeboten wird, wo beispielsweise ein Heer eine Stadt belagert. Auch fällt auf, dass die Kämpfe gegen die Grippianer ausführlicher geschildert werden als sonstige Gewalt davor oder danach im Text (etwa V. 3605-3839).
Spannend wird der Kampf besonders durch die unterschiedliche Bewaffnung der Kreuzzügler und Grippianer. Während erste mit Nahkampfwaffen wie Schwertern und Schilden gut ausgerüstet sind und umzugehen wissen, bedienen sich letztere der Schusswaffen, also Pfeil und Bogen. Das läuft dem Ehrgefühl eines Ritters zuwider, ist er es doch gewöhnt, direkt Mann gegen Mann zu kämpfen, während Kämpfen aus der Entfernung wenig ruhmreich ist.
Ernsts Rede zur Motivation seiner Mannen (V. 3735-3776) ist bemerkenswert, zieht er doch direkt den Bogen vom Tod zum Himmelreich (V. 3744f), danach gilt das Sterben im Kampf als sicherer Weg zu einem glücklichen „afterlife“. Auch „sint [diz] ungetoufte liute unde ahtent niht ûf got“ (V. 3752f), womit ein weiterer Kernpunkt des Kreuzzuges angesprochen wird: entweder werden die Heiden bekehrt oder besiegt. Diese Verbindung von Religion, Gottesglaube und Gewalt bzw. Gewaltmotivierung setzte sich mit den Kreuzzügen durch und wurde beispielsweise von Papst Urban II in einer Predigt im November 1095 dargestellt [f16].16 :: Aufgenommen nach „Ritter, -tum, -stand“ von P. Schreiner in „Lexikon des Mittelalters“, Band 7, S. 865ff Demnach führt Kampfestod zur Erlösung, und es ist eine „von Gott gestellte Aufgabe“, wer vermag sich schon seinem Schöpfer zu verweigern? Damit ist die Idee vom bellum iustum („gerechten Krieg“) diesmal mit dem Hinweis auf Gottes Willen beantwortet.
„durch den list“ (V. 4344) erschlugen Ernst bzw. seine Männer die jungen Greifen nicht (V. 4342). Hier ist wieder deutlich seine Bereitschaft zu spüren, Gewalt zu vermeiden, auch wenn es weniger mit seinem guten Wesen als vielmehr mit „kluger Überlegung“ erklärt wird.
Gott
Nach der Abreise aus Grippia erscheinen häufig die Worte buoze (Buße), sünde (z.B. V. 3888f, V. 3940-3944, V. 3970ff, V.4095). Allerdings erklärt der Text nicht, wofür die Männer denn zu büßen hätten und was denn ihre Sünden wären. Von Ernst wissen wir bereits zwei: curiositas und superbia. Zählt für den Autor die Erhebung gegen den deutschen Kaiser ebenfalls zu den Sünden (V. 1818ff) [f17]?17 :: Da der Kaiser als Vertreter Gottes auf Erden gilt, wird Ernsts Einsicht „wir haben wider gote getân“ (V. 1818) verständlich. Oder ist seine Sünde das Verschwenden von Leben, wie es die lateinische Fassung nahelegt. Oder das Vergelten von Unrecht mit Unrecht (nach „Ehre und Demut“ von Otto Neudeck, in ZfdA, 121, 1992, S. 209ff). Wobei die Idee der Form der Buße, nämlich auf Kreuzfahrt zu gehen, dabei Gott zugeschrieben (V. 1839) wird. Der Text jedenfalls bezieht sich auf die Existenz einer Sünde Ernsts, ohne diese jedoch zu nennen.
18 :: Besteht seine Sünde darin, nicht „die andere Wange“ hingehalten zu haben, also das teuflische Unrecht zu erdulden? Ist allein die Tatsache, dass er sich gegen den Kaiser und damit gegen das riche wendet, eine Sünde im Sinne des Autors? Ist doch von dort das Unrecht ausgegangen, wofür sich Ernst berechtigterweise rächen dürfen müsste. Ich sehe daher die Sündenfalls- und Bußgeschichte eher als zusätzliche, aber nicht das Geschehen ausreichend erklärende Ebene. Sind die Aufforderungen zu Buße auch als Aufforderung an den Leser zu verstehen, er möge seiner Sünden gedenken und sich ein Beispiel an Ernsts Läuterung nehmen? Man könnte diesen Text auch als klassische Sündenfallsgeschichte sehen. Aus einem Idealzustand durch eine Sünde herausgerissen, muss sich bewähren, worauf Läuterung und Rückkehr zu einem (verbesserten) Idealzustand folgen. Doch Ernsts Sünde ist nicht wirklich eine. Durch Unrecht wird er in eine Lage versetzt, woraus er kaum Auswege sieht [f18]. In meiner Lesart beging jedoch Pfalzgraf Heinrich die größte Sünde im gesamten Text – muss jetzt Ernst für ihn büßen?
Immer wieder beruft sich Ernst auf Gott, dessen Gnade etc. Allein in seiner Rede zur Speise (V. 2400 – 2445) erscheint fünfmal das Wort got bzw. trähtîn. Auch der Autor weist bei den positiven Ereignissen hier und später immer wieder auf Gottes Fügung hin. Demgegenüber wurde das Leid des ersten Abschnitts damit erklärt, dass Heinrich vom tiufel beraten sei, was allerdings nur einmal erwähnt wurde. Man kann also mit Recht eine zunehmende Bereitschaft, Ereignisse theologisch zu begründen, konstatieren; wenn nicht gar ein zunehmendes theologisches Bewusstsein bei Ernst und dem Autor [f19].19 :: Diese „beidseitige“ Verstärkung des religiösen Aspektes hat den rezipientellen Vorteil, dass einem diese Verschiebung wirklich auffällt, dafür aber den Nachteil, dass der Autor keineswegs als „objektiver Beobachter“ gelten kann, was wieder den Vorteil hat, dass seine und Ernsts Perspektive sich ähneln und Ernst als Idealfigur nicht in Frage gestellt wird. dass sich Ernst nun auf „göttlicher Mission“ befindet, könnte dies erklären.
„got will uns lîhte versuochen“ (V. 2411), mahnte Ernst noch seine Gefährten. Er selbst ist es jedoch, der der Versuchung nicht widerstehen kann, die Stadt noch einmal aufsucht und sich widerrechtlich den Luxus eines Bades und Schlummers zukommen lässt. Ernst fällt der curiositas anheim, die im Mittelalter als Gotteslästerung galt, gleiches gilt für die superbia, die Wesenselemente mit der Neugier gemeinsam hat. So werden beide im mittelalterlichen Diskurs als Infragestellung der göttlichen Autorität gesehen, und es gehört schon einige superbia dazu, Gottes Werk ergründen zu wollen, was ja der curiositas unterstellt wird. Die superbia äußert sich aber auch ganz real in der Tatsache, dass Ernst die Grippianer nicht ernst nimmt (V. 2939, V. 3308f, V. 2948f), er verspottet sogar ihre körperliche Besonderheit. Diese Art, fremden Geschöpfen zu begegnen wird sich im dritten Abschnitt noch ändern.
Eine weitere Gotteslästerung ist in Ernsts Motivation „mich lustet vil sêre“ (V. 2485 und 2704) zu sehen, da er sich, nun in „Gottes Auftrag unterwegs“, seinen Trieben hingibt [f20].20 :: „lust“ könnte m.E. wohl am besten nhd. mit einer negativ konnotierten „Begierde“ übersetzt werden.
21 :: Höfisches Leben ist auf Schein ausgelegt, um die ere zu erhalten (das lässt sich an dem nhd. Wort „hübsch“ [von mhd. „hövesch“] gut erkennen, welches ausschließlich äußere Schönheit bezeichnet). D.h. das was durch die Handlungen ausgedrückt werden soll (nämlich positive innere Werte) ist nunmehr nur zum Ritus verkommen, und erfüllt sich in der leeren äußeren Handlung. Der miles Christianus ist wieder den christlichen Werten verpflichtet. Diese soll er durch sein Handeln ausdrücken, kann sie dadurch aber nicht, wie im höfischen Ritual möglich, ersetzen. Diese scheinbar plötzlichen negativen Seiten an Ernst kommen allerdings nicht von ungefähr. Hat er zu Anfang seine ere durch milte zu mehren getrachtet (also den weltlichen Zweck weit in den Vordergrund gerückt), so anerkennt er nun mehr und mehr die uneingeschränkte Macht Gottes. Diese negative Zeichnung Ernsts markiert demnach nur eine Phase in der Entwicklung vom höfischen Ritter zum miles Christianus [f21]. Von Anfang an hat er die positiven Eigenschaften eines miles Christianus (wenn man von einer explizit genannten Gottergebenheit absieht), wurde aber durch das höfische Leben vorübergehend „moralisch entstellt“, wenn auch nicht in besorgniserregendem Ausmaß. Der zweite Abschnitt markiert also in religiöser Hinsicht eine Etappe auf Ernsts Weg, zu seinem eigenen Besseren zu finden (wobei die Wertung „besser“ hier im Sinne des Autors gemeint ist).
Wobei auffällt, dass hier so ziemlich jedes Geschehen als von Gott so gefügt dargestellt wird. Ernst erscheint weniger als aktiv Handelnder, sondern eher als Person, der etwas geschieht, die passiv bleibt. Das war im ersten Abschnitt noch nicht so, da handelte er selbst und begründete sein Tun, während jetzt sogar der Rat, wie man sich beispielsweise vom Magnetberg befreien könnte, Gott zugeschoben wird (V. 4200f).
Das Ideal im fremden Land
Nach einer Seefahrt inklusive Sturm war Ernst in Grippia gelandet. Nun, nach Bestehen des Abenteuers am Magnetberg [f22],22 :: Dabei zeigt sich Ernst als Gott gefügig und geläutert und ermahnt seine Gefolgsleute, Reue zu zeigen, Buße zu tun und sich Gott anzuvertrauen, V. 3970ff. überwindet er ein Gebirge, in dem er auf einem Floß die gefährliche Reise durch einen Flusstunnel übersteht. Nach seiner Ankunft in Arimaspi begegnet er den Einwohnern neutral, im Gegensatz zum Autor erscheint ihm ihre Besonderheit, nur eine Auge zu haben, nicht weiter bemerkenswert, er achtet sie mit christlicher Demut als Gottes Geschöpfe. Er erwirbt Ansehen und erhält schließlich ein Lehen, fügt sich also erneut in die feudale Gesellschaft in mittlerer Position ein.
Recht
Die arimaspische Gesellschaft ist ebenfalls feudal organisiert, weshalb Ernst keine Probleme hat, sich in diesem, ihm ja bekannten, Gefüge zu bewähren. Durch ritterliches Reiten (V. 4611) gewinnt er den König für sich und erhält von diesem für sich und seine Männer eine umfassende Versorgung. Ernst genießt bald gutes Ansehen beim König, der ihm „mit triuwen herzeclîchen holt“ (V. 4663) ist. Nach dem Sieg über die Platthufe unterstellt sich Ernst feudal dem König, indem er von ihm ein Lehen empfängt. Womit er natürlich diesem auch wieder durch triuwe, also auxilium und consilium, verbunden bleibt. Ernst kann somit seine Fähigkeiten als Vasall und Lehnsherr (in seinem Landstrich) erneut unter Beweis stellen.
Zweites gelingt ihm – wie nicht anders zu erwarten, in Anbetracht der ihm schon zu Anfang zugeschriebenen Tugenden (V. 100f, V. 141-158) – recht schnell (V. 4791-4806). Zum Schutze seines Landes besiegt er die Plattfüße, die „Oren“ und die Kanaan (Riesen). Auch unterstützt er die Prechami im Kampf gegen die sie bedrohenden Kraniche. Es geschieht dies aufgrund der Tatsache, dass erstere jeweils eine Bedrohung der inneren Ordnung, des Friedens darstellen, letztere ein Volk sind, das die Bedrohung nicht selbst abwenden kann. Denn ein Ritter ist durch die Schwertleite ja darauf verpflichtet, denen zu helfen, die ungeschützt sind.
Ernst verzichtet jedoch auf die angebotene Herrschaft im Lande Prechami. Gab er sich im ersten Abschnitt noch (teilweise erfolglos) Mühe, Gewalt zu vermeiden, und verzichtete er im zweiten auf das Töten der Greifenjungen (violencia), so lehnt er nun im dritten die Herrschaft über ein Land ab (potestas), und beschränkt sich bei der Gewaltausübung auf das Notwendige [f23].23 :: Dieser Eindruck der Beschränkung auf das notwendige Maß wird besonders durch den Erzählstil geprägt, der kaum bei Einzelheiten verweilt, sondern beispielsweise die Kämpfe jeweils so knapp zusammenfasst, dass man das Resultat erfährt und warum dieses Resultat eintrat. Man wird zu recht sagen können, dass Ernst sich der Möglichkeiten zur Gewaltvermeidung deutlicher bewusst wird und sich dieser mit Verstand bedient.
Gewalt
Das wird besonders deutlich bei dem Kampf gegen die Kanaan, die er im Walde angreift, da so deren Gegenwehrmöglichkeiten erheblich eingeschränkt sind. Die Beschreibungen der Kämpfe sind im dritten Abschnitt sehr gerafft. Es ist eine Mischung aus der Schilderung des Resultats (dass Gegner verwundet sind, sterben) und des Vorganges (dass gekämpft wird).
Die Platthuf-Kämpfe dauern 57 Verse, ab V. 4689; gegen die Oren kämpfte er 40 Verse lang, ab V. 4850; gegen die Kraniche in Prechami 17 Verse, ab V. 4965; gegen die Kanaan 31 Verse, ab V. 5201. Zunehmend rücken die Schilderungen von Kamfeshandlungen in den Hintergrund. Vielmehr wird in den wenigen resultativen Kampfbeschreibungen nur Ernsts Überlegenheit, auch im Sinne der „klugen Überlegung“, also List, dargestellt und damit seine Befähigung zum miles Christianus bewiesen. Dieser soll möglichst viele Geschöpfe zum christlichen Glauben bekehren bzw. dessen Gegner besiegen. Das geht aber nicht, wenn man sich bei jedem Kampf unnötig aufhält. Der Text vollzieht also selbst das, was er fordert.
Gott
Im Vergleich zum zweiten Abschnitt sind hier die Verweise auf Gott wesentlich weiter gestreut, auch wenn sie sich noch deutlich häufiger finden als ganz zu Anfang. Mir scheint hier jedoch eine gesunde Mischung aus eigener Tat und Vertrauen in Gottes Fügung vorzuherrschen. Wobei ere wieder ein wichtiger Bestandteil der Gesinnung wird, der im zweiten Abschnitt kaum präsent war. Als Ernst die Lehnsleute des arimaspischen Königs aufruft, sich den Kanaan nicht zu unterwerfen, (V.5067-5088) benutzt er viermal das Wort ere sowie einmal dessen Gegenteil „schande“. Die Mischung der Gesinnungen aus erstem (ere) und zweitem Abschnitt (got, sünde, buoze etc.) ist es, die Ernst hier vorlebt.
Seine Einstellung gegenüber den fremden Kreaturen ist nicht von superbia geprägt wie noch in Grippia (s.o.), sondern er begegnet ihnen aufgeschlossen und mit einer gewissen Demut, wie es sich für einen edlen Christen schickt.
Idealbilder von Nebenfiguren
Wie sind nun die Nebenfiguren gezeichnet, denen Ernst im Laufe des Textes begegnet? Insbesondere welche Funktion haben sie in Bezug auf die Darstellung von Ernst?
Graf Wetzel
Die einzige Figur, die sich neben Ernst durch den gesamten Text zieht, ist Graf Wetzel, Ernsts Vasall. Rechtlich ist er des Herzogs Vasall, aber die beiden scheint eine tiefe Freundschaft zu verbinden [f24],24 :: Nach Bernd Sowinski (s.o.) erscheinen hier Ernsts Gefolgsleute „nicht mehr wie in [Handschrift] A als Untertanen eines Herrn, sondern eher als Kampfgefährten, als Freunde“. und sie kennen sich spätestens seit der gemeinsam empfangenen Schwertleite (V. 118-123). Er steht Ernst mit Rat und Tat (concilium et auxilium) zur Seite. Man kann ihn durchaus als konstanten Charakter bezeichnen, zumindest findet sich im Text kein Hinweis auf eine Änderung seiner Einstellung.
Besonders spannend sind zwei Stellen im Text. „und stüende es an dem willen mîn, sô muest irz underwegen lan“ (V. 2724f). Doch Ernst achtet nicht auf den Rat seines Vasallen, sondern gibt seinem Wunsch nach einem Bade nach. Wenig später (zeitlich) achtet Ernst wieder auf Wetzels Rat (V. 3319-3360), „des rates wart der fürste frô“ (V. 3361). Hier, da es explizit um Gewaltvermeidung geht, folgt Ernst Wetzels Rat, den er in moralischen Fragen (ein Bad nehmen) und einer potenziell lebensgefährlichen Situation missachtete.
Während Wetzel auch sonst als guter Vasall, Ritter gezeichnet wird (V. 113-140 und V. 4806-4812), zeigt sich in Ernsts Verhalten auf Wetzels consilium Ernsts Schwäche. Dennoch wird ihm stets Wetzels auxilium zuteil. Wichtig scheint es dem Autor, die Abhängigkeit eines Lehnsherren von seinem Vasallen zu zeigen, auf dessen Rat und Hilfe er angewiesen ist.
Wetzel fungiert in einer gewissen Weise auch als figürliches Gewissen, das jeweils die Meinung des Autors zu Handlungen Ernsts kundtut (also aus dem Geschehen heraus kommentiert) bzw. die Handlung voranbringt [f25].25 :: Außerdem hat der Autor so noch eine Figur, um die Lorbeeren etwas zu verteilen. Demnach erhält Ernst viel Lob für seine Ideen und Handlungen. Auch kann so ein Figur beispielsweise das Bestreben (des Autors), den Konflikt mit dem Kaiser friedlich beizulegen, Ernst gegenüber gebührlich vertreten. Damit wird das Scheitern einer gewaltfreien Lösung explizit gezeigt. Und auch der listige Einfall, wie man sich gewaltfrei vom Magnetberg retten kann, kommt von Wetzel.
Pfalzgraf Heinrich
Beim Pfalzgrafen kann man sicherlich von einem Gegenbild zum edlen, ehrvollen Ernst sprechen. Verleumdet er doch ohne Grundlage und nur aus Neid (V. 658-661) „als imz der tiufel riet“ (V. 650) den Herzog beim Kaiser. Vor dem Bild des ungetriuwen (V.673, V. 1203) Pfalzgrafen erstrahlt Ernsts Ehrhaftigkeit und triuwe umso mehr.
Herrscher
Ernsts Qualitäten als Lehnsherr sind durch Wetzel deutlich geworden. Doch Ernst ist ja ebenfalls Vasall. Auch als solcher ist er vorbildlich. Z.B. nicht umsonst „hiez in der künic [Otto] gân ze hove dicke an sînen rât“ (V. 616f).
Kaiser Otto
Der Herrscher im deutschen Lande wird zunächst als Idealherrscher präsentiert (V. 175-228). Doch geblendet durch Heinrichs Verrat verliert er sämtliche positive Zeichnung. Er mutiert vom rex iustus zum rex iniustus, der erst im Akt des Verzeihens (V. 5932ff) das erste Mal seit der Verleumdung mit Ernst direkt spricht, dessen triuwe er vorher so sehr lobte (s.o.). Es stimmt nachdenklich, dass ein Herrscher durch die Missgunst und Verleumdungen eines einzelnen derart seine Tugenden vergisst. So reagiert er auf die Bitte der Königin, seiner Frau, um Anhörung Ernsts „in grimme zorneclîche und in vil starken unsiten“ (V. 998f) und auf die der Fürsten „in zorne unsiteclîche“ (V. 1159). Dadurch wird die Abhängigkeit des Kaisers von seinen Beratern (Vasallen) ziemlich deutlich. Auch die persönlichen Schwächen, die so einen Personenverbund, wie das Feudalwesen einer ist, ins Wanken bringen können, werden so durch die Autorität einer Einzelperson bloßgestellt.
Interessant ist, dass Ernst später durch das Missachten des Rates seines Vasallen Wetzel in Schwierigkeiten gerät (zweiter Besuch in Grippia, s.o.). Auch der Autor zeigt keinen Weg aus dieser Misere der Abhängigkeit von Ratschläge(r)n auf. Dafür muss man ihm zugute halten, dass er zumindest beide Varianten, des Folgen eines falschen Rates und das Nichtbefolgen eines richtigen Rates, konsequent durchspielt und damit ein wichtiges Problem des Lehnswesen benennt.
Kaiser/Könige in der Fremde
Ernst zeigt sich allen Herrschern gegenüber stets vorbildlich. Er achtet ihre Position und Funktion und bemüht sich, seinen feudalen Auftrag, ihnen das Herrschen zu erleichtern, zu erfüllen.
Einzige Ausnahme bildet der König von Grippia. Diesen tötet er in dessen Kemenate. Was ihm bei Otto nicht geglückt war, den Herrscher in einem privaten Zimmer zu töten, holt er sinnbildlich in Grippia nach. Damit ist Ernst die Möglichkeit gegeben, seinen Racheschwur gegen den deutschen Kaiser auszusetzen, hat er ihn doch bereits bei einem anderen Herrscher vollzogen, der ebenfalls Unglück über Menschen brachte (hier über Indien, dessen König er tötete und Tochter er raubte).
Besonders in Arimaspi erwirbt sich Ernst eine Stellung, wie er sie vor der Verleumdung bei Otto innehatte. Durch dieses neue Erreichen der gleichen Stellung, quasi aus dem Nichts heraus, nur auf der Basis der ritterlichen Ausbildung und Gesinnung, wird zweierlei bewirkt. Zum einen wird verdeutlicht, dass die Qualität der Ausfüllung einer solchen Stellung nicht auf Geburt oder sonstigen Qualifikationen beruht, sondern darauf, sich an das von Ernst verkörperte Ideal zu halten und sich diese Stellung auch selbst verdienen zu können. Zum anderen ist Ernsts Anspruch auf diese Position (auch im Heimatlande) moralisch legitimiert. Ist er doch aufgrund seiner Tugenden und Fähigkeiten in der Lage, sich diese Position auch zu erarbeiten.
Ergebnisse
Ernst bewährt sich als Vasall und Lehnsherr im eigenen und fremden Land. Anfangs ist er der ere verpflichtet, erwirbt sich diese „nach außen kundgetane Wertschätzung“ (O. Ehrismann, „Ehre und …“, S. 65ff). Nach der Zerstörung der Harmonie des gesellschaftlichen Gefüges erwirbt er sich ere im Kampf vor seinen Begleitern und dem Leser im zweiten Abschnitt, wo eine „Gottseligkeit“ des Textes nicht geleugnet werden kann. Schließlich kann er sich die ere im gesellschaftlichen Gefüge von Arimaspi ebenfalls erwerben. Schlussendlich kehrt er nach weiteren Bewährungen im Kampf gegen die Heiden wieder heim, um dort mit zusätzlicher ere versehen, seine alte Stellung wieder einzunehmen.
Ernst gerät unverschuldet aus der Harmonie in eine Krise. Und in dieser verhält er sich falsch und macht sich dadurch mitschuldig, was er in einer Bewährungs-, Bußfahrt wieder ausgleichen muss [f26],26 :: Dieses Schema von Aufstieg – Sturz – Bewährung – erneuter Aufstieg hat Jürgen Kühnel bei „Herzog Ernst“ nachgewiesen. Otto Neudeck verweist zusätzlich auf die Überwindung von not/arbeit als Form der Buße. Wobei ich ergänzen möchte, dass m.E. die Bußfahrt erst mit der Flucht aus Grippia einsetzt, da Ernst dort noch einige büßenswerte Handlungen ausführte und Gesinnungen zeigte, wenn nicht gar sündigte (s.o.). um schließlich die Harmonie wieder, mit einer neuen Qualität versehen, zu erreichen.
Die alles entscheidende Frage ist: Was ist diese neue Qualität? Kann man sie in der Verbindung von ere und Gottesglauben sehen? Ist sie in der persönlichen Läuterung Ernsts zu sehen, die er durch die Überwindung von not erreichte? Oder doch nur, dass Ernst es geglückt ist, seine alte Stellung wieder zu erreichen?
Diese neue Qualität scheint sich aus allen drei Antworten zusammenzusetzen. Man könnte sie in dem Wort „Motivation“ zusammenfassen. Ernst hat eine neue Motivation für alte Handlungen gefunden. dass diese Motivation außerdem in neuen Handlungen resultieren kann, ist selbstverständlich.
Die Ummotivierung beginnt bereits mit seiner Abreise aus Deutschland, wo er dem pragmatischen Grund, Ehrverlust und Armut vorzubeugen, eine Einsicht in eigene Schuld („wir haben wider gote getân“ V. 1818) zugibt, die den Auftakt zur weiteren Vertiefung in die christliche Ethik bietet, in der Schuld, Buße, Verzeihung zentrale Begriffe sind. Wobei Ernst über die Einsicht in die eigene Schuld und die anschließende Buße schließlich die Verzeihung des Kaisers erreichen kann.
Auffällig ist im Gesamtüberblick die ideale Zeichnung im ersten und dritten Abschnitt. Der zweite dagegen präsentiert alles andere als einen idealen Herzog. Vielmehr ist es hier Wetzel, der weise und vernünftig handelt bzw. Ratschläge erteilt. Das ist insofern bemerkenswert, als im ersten und dritten Abschnitt Ernst jeweils Vasall ist. Nun als Kreuzfahrer stellt er die ranghöchste Persönlichkeit dar. Es gibt keinen (Lehns-)Herren, dem er sich unterordnet. Den einzigen potentiellen Kandidaten, den König von Grippia, tötet er. Kann sich Ernsts Ideal also nur in einer mittleren Stufe, Vasall UND Lehnsherr, entfalten? Scheitert er an den Anforderungen als höchste Instanz aus persönlichen oder (text)strukturellen bzw. -intendierten Motiven?
Nichtsdestotrotz ist er im dritten Abschnitt wieder als Ideal präsentiert, wobei das Ideal vom Vasall und Lehnsherr auf den Kreuzritter ausgeweitet wird. Dabei kann Ernst jedoch auf bestehende Tugenden, Fähigkeiten zurückgreifen. Er muss sich an dieses neue Ideal nicht anpassen, er braucht es nur auszufüllen.
Ernsts Entwicklung / Veränderung und deren mögliche Bedeutung
Auffallend ist, dass Ernst eine Entwicklung durchzumachen scheint. Doch worin diese äußerlich besteht, kann ich nicht erkennen. Seine Verhaltensmuster haben sich vom ersten zum dritten Abschnitt nicht sonderlich geändert [f27].27 :: Sieht man einmal von der Buß- bzw. Verzeihgeste in der Weihnachtsmesse ab, die bereits potenziell in seinen Anhörungsgesuchen mitschwingt, zumindest wird darin seine Bußwilligkeit betont (V. 986 und V. 1142). Seine Einstellung gegenüber höher oder tiefer gestellten Personen ebenfalls nicht. Allenfalls die Gottesergebenheit könnte eine Veränderung darstellen. Zu Anfang ist sie rudimentär vorhanden, während sie ab dem zweiten Abschnitt das Handeln und Sprechen (Denken) teilweise sogar dominiert.
Bewährt sich Ernst an den Höfen Ottos und des arimaspischen Königs, so flieht er letzteren schließlich, um gegen die Heiden zu kämpfen, also den Kreuzzugsgedanken auch auszuführen (aus Deutschland floh er vor dem Tode und der Verarmung auf den Kreuzzug [f28]).28 :: Nach Monika Schulz (s.o.) bietet die Unterstellung unter göttliches Recht die einzige realistische Möglichkeit, ein Verzeihen Ottos zu erwirken.
29 :: Was das Christentum im Sinne des Autors auszeichnet, kann hier nicht erörtert werden (Platzmangel).
30 :: Der 1992 entstandene Zeichentrickfilm „Herzog Ernst“ von Lutz Dammbeck macht diese Änderung auch äußerlich sichtbar. Ernst verwandelt sich vom anfangs in der Rüstung kaum erkennbaren Wesen zum Menschen, da er stückweise die Rüstung verliert. Diese Zuspitzung der Entwicklung auf „Menschwerdung“ unterstreicht die Motivationsverschiebung vom Ritualerfüllen zum Christsein (mitle, triuwe etc. mit Seele, Wahrhaftigkeit zu erfüllen). Zum Zeichentrickfilm nach: Wolfgang Wegner, „Ein Mensch sein, ganz ohne Rüstung“, 1999, (offline), weitere Infos zum Film Nun, da er eine adäquate Stellung innehatte, zieht er freiwillig los, um für die Christenheit zu kämpfen. Seine Gebundenheit an Gott ist stärker als die gute und sichere Stellung, er ist einem höheren Ideal verpflichtet, das sich ihm in Form der Christenheit darbietet. Somit ist sein Handeln jetzt anders motiviert. Oder anders: handelte er früher, weil es sich so schickte bzw. ere brachte, so handelt er jetzt aus Überzeugung. Er hat auf eine unbewusste Art das dem Christentum [f29] zugrunde liegende Ideal verstanden und kann nun all die leeren Rituale mit Seele erfüllt begehen [f30].
Vielleicht wollte der Autor das Publikum ebenfalls unbewusst diese Handlungsmotivationsänderung vollziehen lassen (didaktischer Zweck). Vielleicht wollte er mit „Herzog Ernst“ auch nur ein Exempel für ere-volles bzw. ere-loses Verhalten schaffen (didaktischer Zweck No. 2) [f31]31 :: Ich sehe diese „Exempel“-Theorie am ehesten im Text bestätigt. Zumal ja wie eingangs erwähnt Ernst ein Ideal, einen „guoten knehte“ (V. 3) darstellen soll. Was sich in Anbetracht der Entwicklung zum Wort „Knecht“ auch als „Untergebener“ verstehen ließe. Zumal Ernst nur als Vasall UND Lehnsherr ideal handelt, was nahelegt, dass hier das Idealbild eines guten Ritters in mittlerer feudaler Stellung gezeichnet werden soll.. Vielleicht wollte er aber auch auf die Missstände der bestehenden Gesellschaft hinweisen (didaktischer Zweck No. 3). Vielleicht stimmen alle drei Vermutungen nicht, und es ist nur ein reiner Unterhaltungstext, dem jetzt im Nachhinein eine Menge Intentionen untergeschoben werden.
Aber falls nicht, dann vertrete ich die Meinung, dass das, was den Ernst am Ende von dem am Anfang unterscheidet ein Erkenntnisgewinn, ein Verstehen dessen, was das Christentum auszeichnet, ist. [f32]32 :: Das passt auch gut in den historischen Rahmen, da die Kreuzzüge und damit die christliche Orientierung an Bedeutung gewannen. Der in der Umbruchzeit entstandene Text würde also dann ganz gut die Umstellungsnotwendigkeit illustrieren.
Beim Einpflegen (2010) wurde die Schreibung behutsam an die neue Rechtschreibung angepasst, sonst jedoch keine Änderungen oder Korrekturen vorgenommen.