Einleitung
Mit dem zentralen Tod Siegfrieds, der sich anschließenden Rache seiner Witwe Kriemhild und den vielen Toten bietet das Nibelungenlied [1][1] Ich beziehe mich mit „Nibelungenlied“ auf den Text von Karl Bartsch, die auf der Handschrift B aus dem zweiten Viertel des 13. Jahrhunderts basiert, in der Ausgabe von Siegfried Grosse, 1997. einen Überblick über heldisches Sterben und dessen Folgen. Das Beklagen der Toten scheint dabei eine wesentliche Rolle zu spielen. Ausführlich und wiederholt wird Kriemhilds Leiden nach Siegfrieds Tod thematisiert. Die Vermutung liegt nahe, daß ihre Rache direkt durch das Leiden motiviert werden soll.
Bei der Betrachtung von Kriemhilds Leid stellen sich mehrere Fragen: Inwiefern hängen ihr Leid und ihre Rache zusammen, ist das eine die notwendige Basis für das andere? Wird die Tötung ihrer »Feinde« auch anderes gerechtfertigt? Nach welchen Topoi wird ihr Leid dargestellt, erfüllt es nur Topoi oder ist es ein individuelles Leid? Leiden auch andere Figuren, gibt es dabei Unterschiede? Ist Leiden etwas spezifisch Weibliches? Bei den Fragen nach der Motivation ist zu berücksichtigen, daß das Nibelungenlied proleptisch aufgebaut ist; zahlreiche Vorausdeutungen nehmen den Ausgang der Handlung vorweg und somit wird der Erzählfokus vom „was geschieht“ auf das „wie geschieht es“ verschoben.
In die Untersuchung, wie Kriemhilds Leid literarisch dargestellt wird, sind Beobachtungen zur Präsentation des Leidens anderer Protagonisten eingewoben, eine differenzierte Darstellung von Einzelfällen schließt sich an. Dabei wird auch analysiert, ob Leiden nun etwas spezifisch Weibliches ist und nach welchen Topoi die Figuren des Nibelungenlieds leiden. Dies bildet die Basis für die Untersuchung der Abhängigkeit von Leiden und Rache.
Der Text wird als gegeben angesehen und das darin geschilderte als real angenommen, Fragen nach literarischer Qualität oder Vermögen des unbekannten Autors stellen sich daher nicht. Bei einer so breiten Überlieferung (34 Handschriften, davon elf vollständig) ist es ein wenig riskant, sich nur auf eine Handschrift zu beschränken, wenn man sehr dicht am Text arbeitet. Ich werde diese Beschränkung jedoch akzeptieren, da mir eine gesonderte Betrachtung der anderen Handschriften hinsichtlich ihrer Abweichungen eher geboten scheint als ein halbherziges Daraufverweisen und mehr könnte ich in dieser Arbeit nicht leisten.
Wie es zu Kriemhilds Leiden kommt
Die erste Aventiure[2][2] Ich werde Begriffe des Mittelhochdeutschen ohne gesonderte Kennzeichnung verwenden, wenn sie eindeutig sind und das Bezeichnete besser kennzeichnen als moderne Wörter. Die Kennzeichnung von Zitaten aus dem Text folgt dem üblichen »Strophe, Zeile«, wobei ich die Strophenzählung der Handschrift B in der Ausgabe von Siegfried Grosse verwende. beginnt mit einer kurzen Vorstellung Kriemhilds und ihres Umfeldes. Darin finden sich erste Vorausdeutungen auf das Ende:
Kriemhilt geheizen: si wart ein scœne wîp.
dar umbe muosen degene vil verlíesén den lîp. (2,3f)
si frummten starkiu wunder sît in Étzélen lant. (5,4)
si stúrben sît jæmerlîche von zweier edelen frouwen nît. (6,4)
Nach der Aufzählung weiterer männlicher Protagonisten greift ein Traum Kriemhilds das künftige Leid vor:
In diesen hôhen êren tróumte Kriemhíldé
wie si züge einen valken, starc, scœn’ und wíldè,
den ir zwêne arn erkrummen. Daz si daz muste sehen,
ir enkúnde in dirre werlde leider nímmér gescehen. (13)
Sie zieht daraus für sich den Schluss:
»âne recken mínne sô will ich immer sîn […]
daz ich von mannes minne sol gewinnen nimmer nôt. (15,2/4)
Schon im Vorfeld der eigentlichen Handlung ist damit die Entwicklung vorgezeichnet[3].[3] Die Formulierung der „Motivation von hinten“ (nach Clemens Lugowski) hat sich für diesen vorgreifenden Erzählstil etabliert. Um nicht leiden zu müssen, will Kriemhild lieber ganz auf die Minne verzichten. Hier zeichnen sich bereits zwei potentielle Konflikte ab: entweder Kriemhild ist konsequent und verweigert die Minne und damit die Ehe oder sie findet einen Mann und damit das Leid. Der totale Verzicht auf Ehe dürfte für das »édel magedîn« (2,1) und die Schwester von Königen angesichts der gesellschaftlichen Konventionen (in literarischen Werken) nicht einfach sein. Doch wie geht Kriemhild damit um, wenn sie doch heiratet und das vorausgesagte Leid dann tatsächlich eintritt?
Die dritte Aventiure stellt Siegfried und sein Umfeld vor. Er möchte sich auf die Reise machen und um Kriemhild freien. Doch die Zurückbleibenden ahnen das Ende:
Ez was leit den recken, ez weinte ouch manec meit.
ich wæn’, in het ir herze rehte daz geseit,
daz in sô vil der friwende dâ von gelæge tôt.
von sculden si dô klageten: des gie in wærliche nôt. (71)
Durch die Anordnung der Geschehnisse kann der Leser bzw. Zuhörer die beiden Handlungszweige (Kriemhilds Traum, Siegfrieds befürchteter Tod) miteinander in Beziehung setzen und so das weitaus größere Leid, das durch Siegfrieds Tod entsteht, erahnen. Da sich der Autor als „ich wæn’“ in 71,2 persönlich meldet, wird seine Erzählstrategie noch einmal unterstrichen. Diese besteht nicht nur in den häufigen Vorausdeutungen des vierten Strophenverses, sondern eben auch in der Handlung selbst und wird somit zu einem essenziellen Bestandteil der Narration. Ereignisse wie Siegrieds Abreise entfalten durch die Kenntnis der Rezipienten eine weitere Bedeutung, die den an der Handlung Beteiligten verborgen bleibt. Das betont einmal mehr die Komposition, die nicht nur einzelne Episoden nebeneinander stellt, sondern sie in Wechselwirkung, in Dialog zueinander setzt, um die Wirkung zu erhöhen.
Nach einer Phase der Fernminne – Siegfried, der nur von Kriemhild hörte, muß ständig an sie denken und sie schaut ihm bei den Kampfspielen gern zu – kommt es endlich zum ersten Kontakt der beiden, wobei sie sich ihre gegenseitige Zuneigung signalisieren: „dô wart im von dem gruoze vil wol gehœhét der muot“ (292,4), „mit lieben ougen blicken ein ander sâhen an“ (293,3), „sie het im holden willen kunt vil scíeré getân“ (294,4). Beim nächsten Treffen stellt er seine Kampfestüchtigkeit in ihren Dienst: „daz ist nâch iuwern hulden, mîn frou Kriemhilt, getân“ (304,4). Obwohl die anderen Festgäste abreisen, bleibt Siegfried an Gunthers Hof:
Durch ir unmâzen scœne der herre dâ beleip.
Mit maneger kurzewîle man nu die zît vertreip,
wan daz in twang ir minne: diu gab im dicke nôt.
Dar umbe sît der küene lac viel jæmerlîche tôt. (324)
Diese Strophe enthält alle wichtigen Elemente der Beziehung zwischen Siegfried und Kriemhild. Ihre Schönheit veranlaßt ihn etwas zu tun; nicht er selbst, sondern seine Ergebenheit zu ihr bestimmt sein Schicksal, die Minne zwingt ihn in etwas hinein. Der Autor versäumt auch nicht, noch einmal die Verbindung von minne und Leid zu betonen und das konkrete Ergebnis zu benennen: Siegfrieds Tod. Hier wird Kriemhild ganz offen eine indirekte Beteiligung an Siegfrieds Schicksal bescheinigt, ohne daß sie eine Schuld auf sich laden würde, denn die Minne ist dafür verantwortlich. Wie Zuschauer und Hörer wissen, war Kriemhild durch ihren Traum das Ergebnis einer Liebe bekannt, und dennoch verweigert sie sich ihr nicht länger. Doch daraus entwickelt der Text keinen Vorwurf,[4][4] Später, als Kriemhild und Brünhild im Zwist liegen, stellt der Text ebenfalls keinen direkten Bezug zwischen Siegfrieds Tod und Kriemhilds Haltung ihrer Schwägerin gegenüber her. Kriemhild bleibt damit in ihrer passiven Rolle innerhalb des vorgegebenen Schicksals, der Text weist ihr und ihrem Verhalten keine Verderben verursachende oder heraufbeschwörende Wirkung zu. vielmehr schildert er ihr momentanes Liebesglück.
Nachdem Gunther durch Siegfrieds Hilfe Brünhild gewann, wird erneut Hagens Fähigkeit betont, in der höfischen Gesellschaft durch Taktik zu bestehen. Geschickt veranlasst er Gunther, daß Siegfried als Bote ausgesandt wird, um die Ankunft anzukündigen (529 – 532). Als Gunthers Boten, die Siegfried und Kriemhild nach zehn Jahren zu einem Fest einzuladen ausgeschickt waren, mir den reichen Botengaben zurückkehrten, eröffnet sich die handlungstreibende Motivation Hagens:
„Er mac“, sprach dô Hagene, „von im sampfte geben.
er’n kundez niht verswenden, unt sold er immer leben.
hort der Nibelunge beslozzen hât sîn hant.
hey sold er komen immer in der Burgonden lant!“ (774)
Nach dem Streit der beiden Königinnen Brünhild und Kriemhild gelobt Hagen, Siegfried zu bestrafen (864). Diese Wendung überrascht ein wenig, war Hagen doch bisher nicht bei dem Fest in Erscheinung getreten und war doch vor Gericht Siegfrieds Unschuld bestätigt worden. Das hält Hagen jedoch nicht davon ab, zu behaupten: „daz er [Siegfried] sich hât gerüemet der lieben vrouwen mîn, dar umbe wil ich sterben, ez engê im an daz leben sîn“ (867,3-4). Und der Text stellt lapidar fest: „dô heten im die helde âne schule widerseit“ (869,4).
Und obwohl Gunther nichts von der Ermordung Siegfrieds wissen will, hat Hagen bereits einen Plan. Nicht nur durch Taktik, sondern durch List (angebliche Kriegserklärung Liudegasts und Liudegers) und Lüge (vorgebliche Sorge um Siegfrieds Leben) gelangt Hagen an das Geheimnis um Siegfrieds Verwundbarkeit. Der Krieg wird abgesagt, stattdessen reiten Gunther, Hagen und Siegfried auf die Jagd. Kriemhild gelingt es jedoch nicht,[5][5] Es gibt keine Erklärung, warum Kriemhild nun um Siegfrieds Leben fürchten soll. Die naheliegendste Vermutung ist, daß sie ihren Streit mit Brünhild als Anlass sieht, was der Text jedoch bis dahin nicht angibt. Siegfried von der Jagd abzuhalten, auch ihre zwei Träume, die sie erzählt, haben diesmal keine Wirkung.
Auch im Folgenden ist Hagen der Aktive, der mit taktischem Geschick Siegfried zu einer einsamen Quelle lockt und dort mit dem Speer tötet. Gunthers Rolle besteht im Wesentlichen darin, Hagens Plan nicht zu vereiteln. Siegfried gibt Kriemhild in Gunthers Obhut, damit dieser sich in Treue um seine Schwester kümmert. Am Hofe will man sagen, daß Räuber Siegfried erschlagen hätten, doch Hagen steht zu seiner Tat und „mir ist vil unmære, und wirt es ir [Kriemhild] bekannt, diu sô hât betrüebet den Prünhilde muot“ (1001, 2/3). Diese erkennt selbst den Zusammenhang zwischen Hagens Frage und Siegfrieds Schicksal (1008) und benennt auch die Schuldigen: Brünhild als Anstifterin und Hagen als Täter (1010).
Kriemhilds Leid
Die Entdeckung des Leichnams
Kriemhild widersagt allen Freuden des Lebens und gibt sich selbst Mitschuld an Siegfrieds Tod: noch ehe sie weiß, daß der Leichnam ihr Mann ist, denkt sie an Hagen und „dô wart ir êrste leit“ (1008,3). Diese Formulierung scheint mehrere Bedeutungen zu eröffnen. Zum einen daß dies ihr erstes Leid ist, weitere folgen also noch bzw. dieser Moment bildet den Auftakt zu ihrem weiteren Leid. Zum anderen, daß es ihr erst in dem Moment um den toten Mann richtig leid tut, als sie an Hagens Worte denkt, das Erinnern verstärkt also nur ihr Leid und verweist damit auf ihren Geheimnisverrat zurück.
Kraft- und sprachlos sinkt sie auf den Boden, ihr Schmerz ist „unermesslich groß“, sagt die Übersetzung von Siegfried Grosse. In dem „unmâzen grôz“ (1009,3) findet sich aber auch der Anklang an die mâze, die Ausgeglichenheit. Ihr Schmerz ist jenseits des Maßes, denn sie gibt einerseits ihre höfische Haltung auf, andererseits greift diese Formulierung auch ihrer späteren Leidbewältigung voraus. Vor lauter Trauer läuft ihr das Herzblut beim Reden aus dem Mund (1010,2). In diesem Zustand – sie ist „vil trûreclîche“ (1012,1), hat also wieder in die höfische Maße zurückgefunden – schwört sie Rache. Mit ähnlichen Attributen (z.B. „diu jâmerhafte“, „diu jâmers rîche“, „diu arme“) wird sie im folgenden konstant versehen.
Obwohl es niemand vermag, Kriemhild zu trösten (1026,1), findet sie rasch wieder in die Pragmatik des Alltags zurück und verhindert, daß Sigmunds Männer sofort Rache nehmen (1030). Sie bittet und befiehlt, daß die Rache nicht sofort vollzogen werde, sondern erst später, wenn sich eine bessere Gelegenheit bietet (1032,2 und 1033). Bei der Aufbahrung und gegenüber Gunther und Hagen ist von dem Jammer jedoch nicht mehr viel zu spüren, sie tritt bestimmt und gefasst auf. Dreimal hintereinander wird sie ohne Hinweis auf ihr Leid genannt (1043,1, 1046, 1047), doch anschließend erfahren wir erneut: „done kúnde ir trôst deheinen zer werlde níemén gegeben“ (1049,4). Ihr Leiden ist nach dem kurzen Ausbruch bei der Entdeckung ihres toten Mannes nur noch innerlich. Diese Verschiebung von äußerer zu innerer Trauer ermöglicht ihr, weiterhin ihre höfische Rolle auszufüllen.
Beim Begräbnis
Bei den Ritualen zu Siegfrieds Bestattung überwiegt denn auch die gekonnte Inszenierung des Geschehens: mehr als hundert Messen wurden gesungen (1054,3), Kriemhild lässt Siegfried für drei Tage und Nächte aufbahren und sorgt für die Totenwache und ein reichliches Totenmahl (1057, 1058), Kriemhild verteilt große Teile von Siegfrieds Vermögen an die Armen (1053,3, 1060, 1061, 1063), das Volk ist in Trauer (1065) und viele „guoter pfaffen“ (1065,4) nahmen am Begräbnis teil. Dass an dieser Stelle nicht nur von vielen Geistlichen, sondern von deren Qualität gesprochen wird, verstärkt den Effekt der rituellen Inszenierung.
Von der Inszenierung bleibt jedoch nicht viel als Kriemhild an das Grab kommt (1066). Man muss sie immer wieder mit Wasser begießen und „ez was ir ungemüete vil harte unmæzlîchen grôz“ (1066,4), was erneut an das Übermaß ihres Leides erinnert. Die Tatsache, dass sie bei dieses Leid überhaupt überwindet „was ein michel wunder“ (1067,1). Nachdem ihr zuliebe der Sarg noch einmal geöffnet wurde und sie blutige Tränen über ihren Mann weinte, muss Kriemhild weggetragen werden (1070). Noch einmal werden alle Momente durchlebt, die sie bei der Entdeckung des Leichnams bewegten. Das Blut fließt diesmal aus den Augen, nicht aus dem Mund.[6] Zur Ohnmacht ist anzumerken, dass diese dem Tod nahe kommt, sich darin also ihr Wunsch zu sterben temporär verwirklichen kann. Dieses Mal gibt sie ihre Haltung, die sie in der Zwischenzeit bewahrt hatte, nicht nur im kleinen Kreis, sondern vor großem Publikum auf: sie muss getragen werden und fällt schließlich in eine Ohnmacht[6].