S-Bahn-Geschichten: Montag

Eine Fahrt

Die letzten Atemstöße entwichen seiner Lunge. Gerade noch erwischte er die Bahn. Im letzten Moment erwischte er sie noch. Gerade noch stürzte er sich zwischen den schließenden Türen hindurch. Nun stand er im anfahrenden Waggon. Er sah sich um. Die Vierergruppen Sitze waren alle besetzt. Überall sah er einen einzelnen Mann oder eine einzelne Frau das besetzte Abteil bewachen. Da drüben sah er noch ein freies Abteil.

Der Mann, der der Sitzgruppe, die er sich ausgesucht hatte, gegenüber saß, schaute mißmutig zu ihm hinüber. Was soll’s, wahrscheinlich hat er einen schweren Tag gehabt, dachte er sich und beschloß, diesen Griesgram zu ignorieren. Da wußte er noch nicht, daß dies die einzige Person war, die ihn die Fahrt über begleiten würde. Auch die Frau im Nachbarabteil hatte nur Blicke, die bestenfalls mit „genervt-verbietend” zu beschreiben waren. Vielleicht hätte auch „geschafft” ihren Gesichtsausdruck gut getroffen. Doch mit solchen Details beschäftigte er sich im raschen Vorübersehen nicht weiter. In den anderen Gesichtern sah es nicht besser aus. Sollen sie halt nicht Bahn fahren, wenn es sie so nervt, dachte er und betrachtete seine Sitzgruppe genauer. Ein altes Graffiti war auf der Lehne zu erkennen. Was es bedeutete, konnte er beim besten Willen nicht herausbekommen. Ist ja auch egal. Da schaute er schon lieber aus dem Fenster. Ah, der nächste Bahnhof kommt in Sichtweite.

Die Bahn hielt, die Türen öffneten sich und, wie auf ein Kommando, verließen alle Insassen den Waggon. Nur der alte Mann blieb sitzen und beobachtete ihn weiter aufmerksam, wobei seine Miene jedoch nicht den mißmutigen Ausdruck verlor. Bevor die Bahn wieder anfuhr, war der Waggon schon wieder bevölkert. Wieder saßen in allen Abteilen nur jeweils eine Person. Da hinten, da saß eine Mutter mit ihrem Kind. Sie versuchte das Kind, das sich ständig nach ihm umdrehen wollte, abzulenken. Was hatte er denn an sich, das das Kind ihn nicht ansehen durfte.

Der Blick, den er langsam und wie nebenbei an sich heruntergleiten ließ, konnte ihm des Rätsels Lösung nicht offenbaren. Sicher, die Jeans war schon etwas älter, aber sie sah noch recht manierlich aus. Sie hatte keine Löcher, keine Flicken, war zwar nicht mehr neu, aber auch noch nicht ausgewaschen. Auch der Hosenstall war zu. Seine Jacke war geschlossen und befand sich ungefähr in dem selben Zustand wie die Hose. Die Schuhe waren ordentlich zugeschnürt und erst gestern hatte er sie geputzt. Doch die Mutter wollte ihrem Kind seinen Anblick vorenthalten.

Dem Mienenspiel des alten Mannes entnahm er, daß auch diesem etwas an ihm nicht gefiel. Die anderen Fahrgäste versuchten ebenfalls, seiner nicht gewahr zu werden. Man versuchte wirklich, ihn zu ignorieren! Wieder hielt die Bahn. Die Mutter stürzte mit ihrem Kind hinaus, die anderen Fahrgäste folgten. Sie machten sich sogar die Mühe, Einsteigewillige von deren Vorhaben abzubringen. Nur der alte Mann blieb sitzen, kratzte sich kurz am Ohr und beobachtete ihn weiter. Bei der nächsten Station stiegen wieder Leute ein, um dann am darauffolgenden Bahnhof sofort wieder den Waggon zu verlassen. Er verfolgte wie beiläufig die häufigen Ein- und Ausstiege. Schließlich stieg auch er aus. Langsam ließ er die Bahnfahrt und die vielen Mitfahrerwechsel noch einmal in seinem Kopf Revue passieren. Vielleicht hätte er nicht die ganze Fahrt über im Gang stehen und aus voller Kehle „O sole mio” singen sollen?

Alexander Florin: Alexander Florinein Kind der 70er • studierter Anglist/Amerikanist und Mediävist (M.A.) • wohnhaft in Berlin • Betreiber dieses Blogs zanjero.de • mehr über Alexanders Schaffen: www.axin.de ||  bei Facebook || auf Twitter folgen

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