Räume formen Menschen: Eigene Räume

Dies ist ein dreiteiliger Essay über die Wirkung von Räumen auf Menschen.


Der prominenteste tatsächlich eigene Raum der jüngeren Kulturgeschichte ist Elsas Eispalast in „Frozen – Die Eiskönigin“. Mit ihrer magischen Kältekraft erschafft sich Elsa ihren ganz persönlichen Palast komplett aus Eis: „Don’t let them in, don’t let them see and be the good girl you always have to be. … Let it go … Turn away and slam the door. I don’t care what they are going to say. … Here I stand, and here I’ll stay. … I’m never going back, the past is in the past.“ Zahlreiche Raumkonzepte werden aufgerufen: Das erwartete Verhalten als „good girl“ in ihren elterlichen Schloss-Räumen; das Ausschließen anderer durch Türen und Ignorieren (Exklusion); das Nur-den-eigenen-Regeln-Gehorchen; Zeit als Raum (die Vergangenheit ist ein eigener Raum, der nun verlassen wurde).

Das weitere Geschehen holt Elsa jedoch in ihre sozialen Gefüge zurück. Schließlich findet sie im Happy End auch wieder Freude im elterlichen Schloss, das sie mit ihrer Schwester Anna bewohnt. So einfach, wie sie es euphorisch-befreit singt, kann sich Elsa nicht der Gesellschaft entziehen. Erst dringt ihre Schwester Anna in den Eispalast ein und versucht sie zu überreden. Später kommt es zur Auseinandersetzung mit Prinz Hans und seinem Gefolge, als diese in den Palast (Elsas Raum) eindringen.

Der eigene Raum bleibt letztlich nur eine Schimäre, die es ständig zu verteidigen gilt, vor allem gegenüber jenen, die nicht in ihm sind, aber entweder Anspruch auf den Raum oder an die Person darin erheben.

Szenenbild: Elsa schafft sich in „Frozen“ (2013) ihren eigenen Raum als Eispalast

Szenenbild: Elsa schafft sich in „Frozen“ (2013) ihren eigenen Raum als Eispalast.

Das Raumschiff als eigener Raum?

In „2001 – Odyssee im Weltraum“  (Stanley Kubrick, 1968) wird das gigantische Raumschiff „Discovery“ nur von zwei Astronauten bewohnt. Sozial erleben sie es quasi als eigenen Raum – es gibt keine Konkurrenz um den Raum, keine Eindringlinge, keine Verhandlungen über erwünschtes oder unerwünschtes Verhalten. De facto ist es aber ein fremder Raum (wem auch immer er gehören mag – ihnen jedenfalls nicht), den sie sich nicht zueigen machen können. Nirgends findet sich ein Hauch von individueller Anpassung oder Persönlichkeit in der Gestaltung.

Letztlich handelt es sich um einen pragmatischen Arbeitsraum, der eben nicht nur acht Stunden pro Tag, sondern für viele Monate bewohnt wird. Somit ist das Agieren der beiden Astronauten auch pragmatisch gesteuert und sie wirken – wie mancher Filmkritiker anmerkt – maschinenhafter als der Bordcomputer Hal. Der Pragmatismus des Raumes definiert das Verhalten der Bewohner.

Insofern ist es psychologisch fair und korrekt, dass nur der Android Ash in „Alien“ (Ridley Scott, 1979) während des Fluges wach ist, während die Menschen die Reise im Kälteschlaf verbringen. So können sie sich ihre Persönlichkeit bewahren. Im Wachzustand ist von individuellen Räumen oder Raumbereichen nichts zu entdecken. Jeder hat zwar seinen eigenen Arbeitsbereich, aber es gibt keine Anzeichen von einer Aneignung des fremden Raumschiff-Raumes.

Das Raumschiff „Enterprise“ dagegen begreift sich quasi als gigantischer geteilter Raum, in dem den Bewohnern ihre eigenen Räume zugestanden sind. Wie in einer kleinen Stadt gibt es Bereiche des Übergangs (Gänge), der Arbeit (die Brücke, der Maschinenraum), zur Nahrungsaufnahme, sozialen Interaktion (Holo-Deck) usw. usf.

Das eigene Arbeitszimmer

Die temporäre Flucht vor den sozialen Verpflichtungen gelingt manchen in ihr Arbeitszimmer. Das patriarchale Klischee kennt das häusliche Büro mit mondänem Schreibtisch und der Tür, deren Verschlossenheit Weib und Kinder zu respektieren haben. Ein solches Arbeitszimmer kommt dem Ideal des eigenen Raumes bereits recht nahe. Der Nutzer richtet es komplett nach seinen Bedürfnissen ein und kann darin nach Gutdünken schalten und walten. Lediglich beim Lärmpegel muss er Kollisionen mit der Welt außerhalb seiner Welt vermeiden, und kann beispielsweise sein Radio nur in erträglicher Lautstärke aufdrehen.

Der tatsächlich eigene Raum wäre komplett auf meine Bedürfnisse eingestellt. Alles wäre perfekt, es gäbe keine Kompromisse:

  • bei Zuschnitt des Raumes, Größe und Platzierung der Fenster und Tür/en
  • bei Auswahl und Ausrichtung der Möbel
  • bei Wandgestaltung und Bodenbelag
  • bei verfügbaren Arbeitsgeräten
  • beim Raumklima (es wäre dauerhaft optimal)

Vor allem wäre die Tür abschließbar, und niemand würde es wagen, mich zu stören.

In der Realität sind solche eigenen Räume letztlich meist Kompromisse: sowohl bei der Auswahl der verfügbaren Zimmer einer Wohnung als auch bei der tatsächlichen Nutzung. So ein Arbeitszimmer kann nur eine zeitweilige Flucht aus geteilten Räumen ermöglichen.

Eigene Räume sind langweilig und gefährlich

Wenn geteilte Räume den Menschen formen, so kann er im eigenen Raum sein Selbst ausleben. Die reduzierte Reibung mit anderen verstärkt jedoch anti-soziales Verhalten und verstärkt isolierendes Verhalten. Für Phasen intensiver Beschäftigung ist dies zwar förderlich, als Vollzeit-Ort jedoch wenig geeignet. Man begibt sich im eigenen Raum wörtlich in die Echo-Kammer seiner selbst und filtert neue Einflüsse oder Ideen als störend aus – damit verzichtet man auf zahllose Anregungen. In dieser Echo-Kammer des eigenen Raumes lernen wir nichts. Wir haben nur das, was wir selbst hineinbringen und darin zulassen. Damit ist der eigene Raum kein Ort des Werdens, sondern nur des Seins.

Doch neue Ideen entstehen vor allem im Austausch, in der Reibung mit der Welt, nicht im Rotieren um sich selbst, wie Steven Johnson in „Where good Ideas come from“ nicht nur historisch, sondern auch statistisch belegt. Chemie-Nobelpreisträger Linus Pauling sekundiert dieses Verständnis mit seiner Beobachtung: „Um auf gute Ideen zu kommen, muss man jede Menge Ideen haben – und die schlechten wegwerfen.“ Da die Menge der Einflüsse, die in einen eigenen Raum gelangen können, begrenzt ist, wird einerseits die Menge der Ideen reduziert und andererseits die Aussortierung erschwert.

Der eigene Raum gehört uns selbst in jeder Hinsicht; ich habe vollen Gestaltungsspielraum ohne Gegenstimmen. Ich mache die Regeln, denen sich „Eindringlinge“ unterwerfen müssen: „Fass das nicht an!“, „Setz dich nicht hierhin!“, „Bleib draußen!“ Somit wird mein eigener Raum für alle anderen zum fremden Raum. Im eigenen Raum erlebe ich mich als gestaltungsmächtiges Individuum, doch in sozialer Hinsicht begebe ich mich in ein Gegeneinander mit den anderen. Durch die Raumgestaltung kann ich die Situation für „Besucher in meinem Raum“ verdeutlichen. So versinkt Loriot als „Pappa ante Portas“ (1992) im Sessel vor dem Schreibtisch seines Chefs – die Firmenhierarchie wird in den Raum gespiegelt und nicht nur räumlich ausgedrückt, sondern als unangenehmes Erlebnis inszeniert.

Sheldon Cooper kann in seinem eigenen Raum nur auf einem Platz sitzen.

Sheldon Cooper kann in seinem eigenen Raum nur auf einem Platz sitzen.

Sheldon Cooper in der TV-Sitcom „The Big Bang Theory“ betrachtet die ganze Welt als eigenen Raum. Alles bewertet er nach dem Maßstab, was für ihn persönlich am besten ist. Die entstehende Komik basiert auf den sozialen Konventionen, die eben nicht alles nach dem individuellen Maßstab eines einzelnen bemisst, sondern nach seiner Eignung für soziales Miteinander. Beispielsweise ist es üblich, dass die Sitzordnung auf einer Couch nicht dazu führt, dass ein einzelner einen perfekten Platz erhält, sondern dass niemand einen ungeeigneten Platz besetzt und insgesamt das Miteinander einer sozialen Situation erlebt wird.

Als Refugium und Kondensationsort für eigene Gedanken und eigenes Wirken ist ein eigener Raum zwar nicht zu unterschätzen. Doch ein Zuviel vom Eigenen bedeutet ein Zuwenig vom Gemeinsamen und Miteinander.

Eigene Kinderzimmer schaden

In einem Haushalt mit mehreren Kindern jedem Kind sein eigenes Zimmer zu geben, reduziert für jedes Kind die zwischenmenschliche Reibefläche und behindert somit dessen soziale Mensch-Werdung. Im Idealfall teilen sich die Kinder beispielsweise ein großes gemeinsames Kinderzimmer und haben kleinere Zimmer zum Zurückziehen. So erleben sie sich als Menschen im Miteinander und Aushandeln und reifen aneinander und profitieren als Individuen vom Raum-Luxus der Eltern. Anders herum formuliert: Kinder brauchen erst dann ein eigenes Kinderzimmer, wenn sie darum bitten.

Gleichermaßen ist ein gemeinsamer Fernseher für die Kinder geeigneter als ein eigener für jedes. Noch sozialer wäre es jedoch, bis zu einem gewissen Alter die Programmverhandlung gar nicht mit Geschwistern, sondern mit verständigen Eltern zu führen – indem sich die Familie nur einen Fernseher teilt. Damit gäbe es sogar einen weiteren Zeit-Raum für die familiären Rituale, die den sozialen Halt innerhalb der Familie festigen: das gemeinsame Fernsehen.

Was situativ wünschenswert und angenehm ist (über einen möglichst umfassenden eigenen Raum zu verfügen), zeigt in seinen langfristigen Auswirkungen oft seine Schattenseiten (fehlende soziale Kompetenz). Erhalten Kinder zu früh einen eigenen Raum, werden wichtige Passagen in der sozialen Kompetenz behindert. Auch der Besuch eines Kindergartens fördert diese, denn darin teilen sich viele Kinder einen Raum und handeln das Miteinander darin untereinander aus. Ein eigenes Kinderzimmer bedeutet auch viel Verantwortung für Geister, die noch im Entstehen sind – was macht ein Kind in seiner eigenen Echo-Kammer? Es gibt zu wenig Auseinandersetzung, Grenzentesten um zu lernen, dass sie nicht das Zentrum der Welt sind, sondern ein Teil davon.

Wer Kinder beobachtet, erkennt schnell, dass diese sich als soziale Wesen verstehen und die soziale Interaktion im Miteinander genießen. Meist möchten sie sogar lieber mit anderen Personen zusammensein, als für sich allein in ihrem Zimmer – die materielle Bedeutung des eigenen Zimmers würdigen sie weniger als soziale Erlebnisse. Zugespitzt ist ein eigenes Einzelzimmer wie goldene Isolierhaft (für den Körper und die Seele). So liebevoll und respektvoll sie gemeint sind, aber auf die Kindesentwicklung wirken sie eher nachteilig. Bei Einzelkindern ist das eigene Kinderzimmer oft selbstverständlich – umso wichtiger ist es dann, besonders viele soziale Situationen mit der Familie und anderen zu ermöglichen. Im Idealfall halten sich die Kinder in ihren Zimmer so selten wie möglich auf, eigentlich nur zum Schlafen, für konzentrierte Beschäftigung mit einer Aufgabe oder wenn sie tatsächlich ein Refugium benötigen, um etwas Erlebtes in Ruhe zu verarbeiten.

Kulturell-gesellschaftliche Abschweifung

Es gibt eine Tendenz in „großen Filmen“, Dialoge als Gesichtseinzelaufnahmen zu präsentieren. Und zwar nicht nur bedeutungsschwere Dialoge, sondern möglichst alle. Optisch werden so die Menschen in ihren jeweiligen Szenenräumen isoliert. Ältere Filme oder Arthaus-Filme dagegen setzen häufig auf Ensemble-Aufnahmen bei Dialogen: die Dialogpartner sind gleichzeitig im Bild. Dadurch zeigt das Bild mehr als nur die aktuelle Verfassung des Redners im Gesicht: nämlich das Verhältnis der Figuren zueinander und im Raum sowie ihren Umgang miteinander. Der Filmraum beinhaltet auch die sozialen Verflechtungen der Figuren.

Kulturpessimisten sehen darin die filmische Fortführung der Vereinzelung, die gesellschaftlich bereits eingesetzt hat. Jeder ist für sich allein verantwortlich, agiert nur für sich – anstatt füreinander verantwortlich zu sein und miteinander zu agieren. So wie Filmdialoge optisch zur Kollision von Einzelaussagen werden, so besteht die gesellschaftliche Realität aus sozialen Wesen, deren individuellen Welten stets auf Konfrontation ausgerichtet sind. Es gilt weniger das Ziel „Was könnte uns gemeinsam voranbringen und nutzen.“ Vielmehr ist jeder auf seinen Vorteil bedacht und versucht diesen zu erlangen und zu verteidigen: „Was bringt mich voran und nutzt mir.“

Anders herum formuliert: Die Gesellschaft motiviert jeden dazu, seine eigene Welt zu erschaffen, seine eigenen Werte zu verfolgen und sich gegen den Rest der Welt zu behaupten. Rücksicht, Vorsicht, Zurückhaltung kommt in diesem Kosmos der individuellen Welten nur noch als Anspruch an andere vor. Wenn meine Nachbarn unendlich laut Musik hören oder spät Samstagabends die Bohrmaschine anwerfen, kann ich dies als asoziales Verhalten interpretieren oder als Symptom für ihr Weltbild: Ihre Wohnung ist ihr eigener Raum, den sie auch akustisch so gestalten können, wie es ihnen situativ gefällt. Ihre Wohnung verstehen sie nicht als Teil in einem größeren Wohnkomplex, sondern als eigene Welt, als ihre Echo-Kammer. Die Zahl solcher anekdotischen Erlebnisse steigt. Jedes für sich ist Bagatelle, doch in ihrer Gesamtheit zeigen sie, dass der eigene Raum praktisch zwar selten tatsächlich existiert, aber dennoch von vielen in Anspruch genommen wird.

Das zeigt sich am (genervten) Nebeneinander in den realen geteilten Räumen, in denen wir tagtäglich unterwegs sind. Das zeigt sich in der künstlerischen Zuspitzung der Filmräume, die durch Bildausschnitt und Montage die Menschen zunehmend trennt statt verbindet. Das zeigt sich in politischen Debatten, die individuelle Verantwortung über gesellschaftliche Verantwortung stellen. Das zeigt sich in sozialen Erlebnissen, in denen sich jeder gegenüber der Rest-Gruppe positioniert.

Disclaimer

Dieser Text entstand in einem eigenen Raum („mein Arbeitszimmer“). Damit ist er ein Ergebnis des Aufenthalts in der Echo-Kammer meiner selbst, in die ich einige Ideen und Gedanken aus der Außenwelt hineingetragen habe.

Zur Klarstellung: Natürlich wirken Räume nicht so monokausal, wie es manche Formulierungen nahelegen. Kein eigenes Kinderzimmer allein wird aus den jungen Menschen selbstsüchtige asoziale Monster machen. Aber ein eigenes Zimmer kann eine solche Entwicklung unterstützen. Letztlich wirkt die gesamte soziale und familiäre Lebenssituation der Kinder auf deren Entwicklung.

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Alexander Florin: Alexander Florinein Kind der 70er • studierter Anglist/Amerikanist und Mediävist (M.A.) • wohnhaft in Berlin • Betreiber dieses Blogs zanjero.de • mehr über Alexanders Schaffen: www.axin.de ||  bei Facebook || auf Twitter folgen

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