Filmbesprechung
„Warte, warte nur ein Weilchen, bald kommt der Schwarze Mann zu dir. Mit dem kleinen Hackebeilchen macht er Schabefleisch aus dir. Du bist raus.“ Mit einem Kinderabzählreim beginnt Fritz Lang seinen Film über die Jagd nach dem Kindermörder. Ein Kameraschwenk von der spielenden Kindergruppe führt zu einer Berliner Hausfrau, die den Kindern das „verfluchte Lied“ verbietet. „Solange man sie singen hört, weiß man wenigstens, dass sie noch da sind“, beschwichtigt Frau Beckmann, während sie sich um den Haushalt kümmert und das Eintreffen ihrer Tochter Elsie erwartet. Elsie spielt auf dem Heimweg von der Schule noch etwas mit einem Ball, als sich ein Schatten über die Alltagsszenen legt. „Du hast aber einen schönen Ball“, sagt der Schatten, und das Kind folgt dem gesichtslosen Mann, der ihr einen Luftballon kauft. Frau Beckmann wartet zunehmend unruhiger auf ihre Tochter. Der gedeckte Mittagstisch steht für das Kind bereit. Doch ein durch das Gras rollender Ball und der sich in Oberleitungen verfangende Luftballon lassen das Warten hoffnungslos erscheinen.
In der anonymen Großstadt
In den ersten acht Minuten setzt „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“ mit dem Einzelschicksal der Elsie Beckmann den Auftakt zur Jagd auf den achtfachen Kindermörder. Sämtliche Personen bleiben geschichtslos, Namen und kurze Situationen genügen oft zur Charakterisierung der Typen. Präzise Situations- und Personenskizzen fügen sich in das Ensemble anonymer Berlinszenen. Dadurch entsteht ein Abbild des anonymen Großstadtlebens, das durch den Kindermörder aus dem Alltag gerissen wird. Der virtuose Einsatz dokumentarisch wirkender Szenen im Zusammenspiel mit auf die Spannung hin inszenierten Momenten zieht das Publikum nicht nur in die zunehmend hysterische Großstadtatmosphäre, sondern auch in das Seelenleben eines Kindermörders hinein.
Die Polizei unternimmt alles Menschenmögliche, wie der Polizeipräsident dem Innenminister am Telefon versichert, um den Mörder zu fassen. Illustrierende Bilder begleiten den ausführlichen mündlichen Bericht über die Polizeiaktivitäten. Komplexe und umfangreiche Vorgänge werden so anschaulich und knapp dargestellt, womit „M“ das Stilmittel des Off-Erzählers erstmals in der Filmgeschichte einsetzt. Die zunehmende Nervosität der Polizei und deren täglichen Razzien lassen den Kriminellen kaum Handlungsspielräume, sodass diese sich verbünden, um den Kindermörder ebenfalls zu fassen, damit die Polizei wieder zur Ruhe kommt.
Paralleles Handeln
„M“ setzt die Methoden des Polizeiapparats und die Aktivitäten der Kriminellenverbände nebeneinander und lässt die Grenzen zwischen den Personengruppen verschwimmen. Wie in einem medialen Spiel integriert „M“ die Parallelität von Personen, Bild- und Tonebene konsequent von Anfang an in die Präsentation. Diese Parallelität bestimmt nicht nur den Filmrhythmus, sondern beeinflusst direkt das Erleben des Publikums, das durch die fast komödiantische Inszenierung der Polizei in einer ambivalenten Stimmungslage gehalten wird. „M“ schildert die Suche der Polizei und der Kriminellen als sich gegenseitig verstärkende Handlungsentwicklung. Die Polizei engt schließlich durch eine neue Schlussfolgerung das Suchfeld auf den Kindermörder Beckert als Verdächtigen ein und wartet in seiner Wohnung auf ihn. Währenddessen durchkämmen die Kriminellen die ganze Stadt systematisch. Beckert ahnt davon nichts, und als dritte Parallelhandlung begleitet der Film ihn dabei, wie er sich ein neues Opfer sucht. Der blinde Bettler, bei dem Beckert den Luftballon für Elsie Beckmann gekauft hatte, erkennt Beckerts Pfeifmelodie („In der Halle des Bergkönigs“ aus Griegs „Peer Gynt“-Sinfonie) wieder. Er macht den Tagelöhner Heinrich auf den pfeifenden Mann aufmerksam. Mit einem „M“ aus Kreide markiert Heinrich Beckerts Mantel an der Schulter, sodass Bettler und Ganoven ihn verfolgen können. Nach grausam langen Filmminuten, in denen Beckert mit einem Mädchen durch die Stadt unterwegs ist, erkennt dieser, dass er verfolgt wird und flieht in ein Bürogebäude, aus dem er nicht mehr herauskommt.
Ethisches Dilemma
In einer Großaktion durchsuchen die Kriminellen das Bürogebäude, entdecken schließlich Beckert und nehmen ihn mit. Als die Polizei anrückt, können sie nur noch den vergessenen Ganoven Fritz festnehmen. Die übrigen Kriminellen versammeln sich in einer alten Fabrik und sitzen über den Kindermörder zu Gericht. Der Anführer Schränker (Gustaf Gründgens) gibt die Stimmung der versammelten Menschen wider: „Du musst unschädlich gemacht werden!“ Die Verhandlung offenbart, dass der Film keine Partei bezieht, ja sogar Mitleid mit dem Verbrecher zeigt. Seiner Rede „Ich kann doch nichts dafür!“ (1:39f) wird breiter Raum eingeräumt. Der ausführliche Austausch von Argumenten zieht das Publikum in das ethische Dilemma hinein. Das kindlich-unschuldige Gesicht des Darstellers Peter Lorre, der mit dieser Rolle weltberühmt wurde, verzerrt sich zu einer Schreckensfratze, als er eindrucksvoll sein Leiden schildert und die Konsequenzen seiner Taten fürchtet, denn die Kriminellen und anwesenden Bürger fordern die Todesstrafe. Da „M“ Beckerts Leiden zuvor ausführlich zeigte (0:52ff), schwankt die Gefühlslage zwischen Mitleid und sozialer Verantwortung.
Fritz verrät der Polizei, wo sich die Kriminellen zusammengefunden haben, sodass deren Urteil über Beckert vom plötzlichen Eintreffen der Beamten verhindert wird. Die Ansammlung wird geschlossen verhaftet. Beinahe abrupt endet der Film, ohne das Gerichtsurteil mitzuteilen, mit dem Satz einer Mutter: „Man muss eben noch besser auf die Kinder achtgeben.“
Technische Hinweise
Für Stab- und andere Angaben: http://german.imdb.com/title/tt0022100/
Filmbesprechung und Aufgaben basieren auf der restaurierten Version, wie sie auf www.archive.org/details/M_ als Public Domain verfügbar ist. Diese enthält jedoch das schon bald nach der Premiere geänderte Ende („Man muss eben noch besser auf die Kinder achtgeben.“) statt einer ausführlichen Gerichtssequenz sowie englische Untertitel. Es ist empfehlenswert, den Film auf DVD zu brennen, um gemeinsam oder individuell für die Aufgaben einzelne Szenen noch einmal anschauen zu können.
Beispielaufgaben
Der Film ist in Deutschland ab 16 freigegeben, daher kann er frühestens ab Klassenstufe 10 im Unterricht gezeigt werden.
Aufgabe 1 (Deutsch)
Welche Funktion haben die Medien und Texteinblendungen in „M“? Wie wird – außer in medialen Berichten – sonst die Stimmung der anonymen Großstadtbevölkerung geschildert?
Die Schüler verfassen Zeitungsartikel, die Beckerts Verhaftung, die Vorgeschichte und die Umstände schildern. Gemeinsam erstellen sie so eine zwei- oder vierseitige Zeitung („Extrablatt“) zu dem Thema „Kindermörder gefasst“.
Aufgabe 2 (Englisch)
Treffen die Untertitel den Inhalt des gesprochenen Wortes immer korrekt? Welche Informationen gehen verloren? Was können aus dieser Übersetzung für Schlussfolgerungen auf synchronisierte Filme gezogen werden? Kennen die Schüler selbst erlebte Beispiele, wo eine Untertitelung/Synchronisation dem Original sehr gut entsprach?
Mittels zwei Sequenzen von je drei bis fünf Minuten Länge (beispielsweise der Polizeibericht 0:15ff und Beckerts Rede 1:39ff) kann eingehend das Verhältnis zwischen deutschem Originalton und englischer Untertitelung besprochen werden. Inhaltliche Verkürzungen oder Zusammenfassungen werden so schnell erkannt. Es können (in Gruppenarbeit) treffendere Übertragungen des gesprochenen Wortes erarbeitet, den angebotenen Untertiteln gegenübergestellt und diskutiert werden.
Aufgabe 3 (Geschichte)
Welches Bild zeichnet der Film vom Berlin Anfang der 1930er? Nimmt der Film, wie vielfach behauptet, tatsächlich die Stimmung, die zur Machterhebung der Nationalsozialisten führen sollte, vorweg, und wie ist diese Stimmung?
Insbesondere Szenen, in denen die Menschen sich zu einer hysterischen Menge zusammenschließen (beispielsweise als ein Kind einen älteren Herrn nach der Uhrzeit fragt, 0:12f), und die „Verhandlung“ der Kriminellen am Filmende geben Einblicke in die Stimmung und wie diese sich zur Hysterie steigern kann. Auch Hausarbeit, Straßenverkehr, Schankwesen und Sprache berichten vom Berliner Alltag. Mit Filmstills, zeitgenössischen Fotos und selbsterarbeiteten Texten kann so anhand des Filmes beispielsweise ein Wandbild über Berlin Anfang der 1930er entstehen.
Aufgabe 4 (Ethik, Gesellschaftskunde, Philosophie)
„Ich kann doch nichts dafür! … Kann ich denn anders? Hab ich denn nicht das Verfluchte in mir? … Wer weiß denn, wie’s in mir aussieht, wie es schreit und brüllt da drinnen, wie ich es tun muss – nicht will, MUSS!“ (Beckerts Monolog, 1:39f) Welche Möglichkeiten hat eine Gesellschaft, mit Tätern umzugehen, die nicht für ihre Taten verantwortlich sind? Wann sind Täter überhaupt für ihre Taten im Wortsinne „verantwortlich“? Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang das Konzept des freien Willens? Hat Beckerts Verteidiger Recht, wenn er fordert „Einen kranken Menschen übergibt man nicht dem Henker, sondern dem Arzt“?
Transkripte von Beckerts Monolog, dem Plädoyer seines Verteidigers und den Hauptargumenten des Schränkers können zur Darlegung der drei vom Film vorgeschlagenen Möglichkeiten herangezogen werden. Drei Personen bereiten eine Diskussionsrunde vor, in der sie die jeweiligen Hauptargumente und Lösungsvorschläge vorstellen. Ausgehend von dieser Diskussion werden Essays verfasst, von denen drei bis fünf (in der Argumentation möglichst verschiedene) im Anschluss gemeinsam besprochen werden.
Aufgabe 5 (Ethik)
Darf man bei einem Film zu einem so tragischen Thema lachen? Immer wieder durchbrechen Szenen, die aus einem Lustspiel stammen könnten (insbesondere über die Polizeiarbeit), das Thriller-Geschehen. Ist das Schmunzeln oder Lachen des Publikums nicht als Verhöhnung der Opfer anzusehen?
In Gruppenarbeiten werden kurze Filme zum Thema „verantwortliches Lachen“ erstellt. Diese regen einerseits zum Lachen an, fördern aber andererseits die Auseinandersetzung, „ob man über so etwas überhaupt lachen darf.“ Bei dieser Aufgabe ist die Medienkompetenz der Schüler und Lehrer gefragt, um sicherzustellen, dass die Filme nicht bloße Provokation oder Tabubruch sind. Alternativ kann ein Szenenzusammenschnitt aus „Teeniekomödien“ der vergangenen zehn Jahre (beispielsweise „American Pie“, „Another Gay Movie“, „Party Animal“) das Thema Lachen im Kino problematisieren und zur Diskussionsunterstützung dienen.
Aufgabe 6 (Medienkunde, Deutsch)
Welche Symbole verwendet „M“? Was zeigt er nicht und zeigt es dennoch und wie erreicht er dies?
In einem gemeinsamen Gespräch werden die Symbole von „M“ zusammengetragen. In kleinen Gruppen oder einzeln untersuchen die Schüler, wie ein solches Symbol im Film eingeführt und dann verwendet wird. Dabei können Bezüge zu anderen literarischen oder filmischen Werken gezogen werden, die durch „Ersatzpräsentation“ etwas ausdrücken. Durch das Zusammenführen der einzelnen Ergebnisse, beispielsweise in einem Wandschaubild, einem gemeinsamen Internetprojekt oder einer gespielten „Konferenz“, lässt sich eine „Phänomenologie des Symbols“ anhand des Filmes „M“ erstellen.
Aufgabe 7 (Medienkunde, Deutsch)
Wie arbeitet „M“ mit der Tonspur?
Die Funktion von Passagen mit Szenenton, Stille, Off-Erzähler (dies übrigens ein Novum im Tonfilm) bestimmen den Rhythmus des Films. Wie effektiv sind diese Verfahren jeweils zur Vermittlung von Informationen, Stimmungen und zum Vorantreiben der Handlung? Die Schüler können durch Erstellung einer eigenen Hörspiel-Version des Filmes die Wirkung und den Einsatz von Ton sehr genau selbst erleben und sich im Zuge der Erstellung mit den zahlreichen Möglichkeiten auseinandersetzen sowie Ton-Bild-Korrelationen entdecken.
Aufgabe 8 (Gesellschaftskunde, Politik)
Wie könnte – nach heutigem Verständnis – das staatliche Urteil über Beckert lauten und wie wäre es zu begründen?
Zur Einführung können reale Urteilsschriften ähnlich gelagerter Kriminalfälle beispielsweise in Referaten vorgestellt und analysiert werden. Kurze Essays zur Begründung der eigenen Urteilsvorstellung bieten Basis für eine Debatte über Todesstrafe, Rechtssystem und staatliche Verantwortung.