Viele Menschen kommen gut damit zurecht, mehrere Aufgaben parallel abzuarbeiten und erwarten dies auch von ihren Mitmenschen. Dessen muss man sich bewusst sein. In den Zeiten der Postkutsche freute man sich, wenn eine Nachricht binnen Wochen beantwortet wurde, heute erwarten wir binnen weniger Stunden eine Reaktion. Die technologischen Möglichkeiten bestimmen wesentlich mit, welche Erwartungen wir an uns selbst und andere stellen. Die Post schafft es inzwischen, Briefe fast immer am Folgetag zuzustellen.
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Nur Banken sind noch nicht in der neuen Zeit angekommen. Sie schalten am Wochenende ihre Computer aus und bestehen weiter darauf, dass auch virtuelles Geld eine gewisse Zeit benötigt, um transportiert zu werden. Sie geben nur die Arbeit an die Kunden weiter, ohne die entstehenden Vorteile ebenfalls weiterzureichen. Die Möglichkeit, seine Bankgeschäfte direkt erledigen zu können, ist auf den ersten Blick praktisch. Auf den zweiten Blick ergibt sich ein Komfortgewinn, denn ich muss nicht mehr in eine Filiale. Auf den dritten Blick haben mich die Banken dazu verführt, ihnen die Arbeit abzunehmen. Sie können Personal sparen, denn immer weniger Kunden benötigen kundige Schalterangestellte, weil sie alles selbst online erledigen können.
Während Kunden durch Online-Banking ermächtigt wurden und auf ihrer Mündigkeit bestehen (Fehler sind entweder auf falsche Kundeneingaben oder seltene Software-Fehler zurückzuführen), sind Geldgeschäfte insgesamt stärker in den Alltag integriert. Einst wurden Rechnungen und Aufträge für die Bank gesammelt und dann in einer Filiale auf einen Schlag abgearbeitet. Trudelt heute eine Rechnung ein, loggt man sich ein und überweist. Geldempfänger werden ungeduldig, wenn das Geld nicht spätestens am übernächsten Tag angewiesen wurde. Dass die Bankencomputer durch eine seltsame Ignoranz der Welt weder samstags noch sonntags Buchungen ausführen können, muss niemand verstehen; verbunden mit den drei Tagen Banklaufzeit können Überweisungen vom Donnerstagmittag erst am Dienstagabend gutgeschrieben werden, in unserer schnellen Zeit also unerträglich spät.
Jeder kann selbst überlegen, ob er auf träge Banken schimpft oder sich den Multitaskingbegeisterten anschließt, die ihre Bankgeschäfte zwischen andere Aufgaben dazwischenschieben, weil nichts aufgeschoben werden kann. Heutige Computer verführen dazu, ständig zwischen vielen Aufgaben aufwandsarm hin- und herzuwechseln. Wir haben ein Programm für eMails, eines für Terminverwaltung, eines zum Surfen – eigentlich gibt es für jede Aufgabe ein passendes Programm. Jedes dieser Programme besitzt ein eigenes Fenster. Mit manchen Programmen haben wir mehrere Fenster geöffnet, beispielsweise mehrere Text-Dateien oder verschiedene eMails.
Der Abschied vom Monotasking hat neben dem Erfordernis einer steten Orientierung zahlreiche Auswirkungen.
Wir sind inzwischen daran gewöhnt, souverän mit mehreren Fenstern gleichzeitig umzugehen und Inhalte aus einem Fenster in einem anderen weiterzuverwenden. Wir recyclen Sätze aus Text-Dateien in eMails und andersherum. Wir können jede Aufgabe unterbrechen, um uns einer anderen Angelegenheit zu widmen; können wir dies nicht, werden wir schief angeschaut. Da unser lokaler Arbeitsplatz inzwischen so viele Dinge gleichzeitig kann und dabei an globale Datendienste angeschlossen ist, haben wir Zugriff auf eine schier unendliche Menge von Informationen. Aus diesen generieren wir neue Ideen, Texte, Filme, Musikstücke oder die Entscheidung für einen Aktienkauf oder -verkauf.
Aus der Vielzahl an offenen Fenstern entsteht etwas Neues: die Quantität der Informationen gebiert eine neue Qualität von Gedanken. Die „Web 2.0“-Philosophie mit ihrer Mitmachaufforderung setzt genau dort an. Die Mash-Up-Kultur, die bestehende Werke in Bröckchen zerlegt, aus denen sie etwas Neues erschafft, ist nur vor dem Hintergrund der zunehmenden Technologie-Leistungssteigerung zu erklären. Denn damit etwas zur „Kultur“ werden kann, muss es für eine Mehrheit verfügbar sein. Noch nie waren die Hürden so niedrig, selbst etwas herzustellen und zu veröffentlichen.
Es ist gängiges Verständnis, dass Kunst aus Sublimation entsteht, meist als Ersatz für fehlende ausgefüllte Sexualität. Moderne Datennetze schaffen „Begegnungsräume“, wo sich Gleichgesinnte treffen und über niederste Bedürfnisse austauschen können, mitunter auch in dem Wunsch, diese dann in der Realität auszuleben. Statt Bedürfnisse in anderen Aktivitäten zu sublimieren, werden diese vielleicht nicht ausgelebt, aber online im Gespräch kompensiert. Bei den zahlreichen Kompensationsangeboten steht die Furcht im Raum, dass darunter die Kunstproduktion leidet.
Die Veränderungen schleichen sich von hinten an, und plötzlich stehen die Nutzer vor einer veränderten Technikwelt. Es gibt keinen Masterplan, der Web 2.0 den Durchbruch verschafft, doch viele Nutzer nutzen zunehmend die neuen Möglichkeiten und „zwingen“ damit andere, es ihnen gleichzutun. Ein sich selbst verstärkender Kreislauf. Welcher Jugendliche kann es sich heute erlauben, nicht in einem Social Network Mitglied zu sein? Er würde als Außenseiter dastehen, von Partys nichts erfahren, seine Hausaufgaben allein erledigen müssen und könnte mit seinen Freunden nur von Angesicht zu Angesicht sprechen.
Am Anfang des Web gab es Suchmaschinen, die nur die Inhalte auswerteten. Als Google auf den Markt trat, wurden diese zunehmend von den Nutzern vernachlässigt und starben rasch aus. Der Erfolg von Google basiert auf seiner Relevanz der Suchergebnisse. Die besseren Suchergebnisse kamen dadurch zustande, dass Google als erste Suchmaschine das Web als Netzwerk begriff. Nicht nur die Einzel-Inhalte wurden erfasst, sondern auch deren Vernetzung. Gab es zwei ähnliche Inhalte, wurde dasjenige besser bewertet und höher in der Liste angezeigt, auf das mehr Links verwiesen.
Im Web 2.0 genügt es jedoch nicht mehr, nur die Inhalte und deren Vernetzung zu berücksichtigen. Die soziale Aktivität und die Vernetzung der Internetnutzer sind ebenso wichtig. Künftige Generationen von Internetnutzern schauen möglicherweise nicht mehr auf einer Nachrichtenseite nach, sondern werden über ihr soziales Netzwerk informiert. Welche Nachrichten halten die ihnen bekannten Personen für wichtig, womit beschäftigen sich die Freunde. Statt Spiegel Online (der populäre Internet-Vertreter eines etablierten Magazins aus der Gutenberg-Ära) schauen sie auf Facebook oder MeinVZ nach, was in der Welt wichtig ist. Dabei ist die Welt immer so groß, wie der eigene Horizont es zulässt.
Informationen, die nur einen Mausklick entfernt stehen und als eine von vielen auf unserem Monitor erscheinen, verlieren aber an gefühltem Wert. Um 1990 hielt ich einen Schulvortrag zu dem Disneyfilm „Fantasia“, über den ich jahrelang Informationen gesammelt hatte. Heute könnte ich einen informativeren und umfangreicheren Vortrag über „Fantasia“ halten und müsste nur zwei Stunden „recherchieren“. Die neue Welt ist weder besser noch schlechter als die alte. Sie ist nur anders.
Überblick über „Der Apple-Faktor, Band I“:
1. Einleitung
2. Die Anfänge
3. Von der Taste zum Touch
4. Von der Anweisung zum Klick
5. Virtueller Schreibtisch
6. Vom Buchstaben zur Transparenz
7. Vom Einzelplatz zum Netz
8. Von der Philosophie zum Kompromiss
9. Die wunderbare Welt der Software
10. Zum Ende: Versuch eines Vergleichs zwischen Mac OS X und Windows Sieben
Epilog: Eine neue Zeit
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