In Ergänzung zu meinem langen Beitrag über Orson Welles ist mir gerade noch ein Phänomen aufgefallen. Die Verquickung von medialer und realer Persönlichkeit.
Schon in jungen Jahren galt Orson Welles als „Wunderkind“. Mit seinem „Citizen Kane“ schlug er – jedenfalls innerhalb der Branche – große Wellen. Mit seinen Bühnen- und Radio-Inszenierungen spielte er sich in das Bewusstsein vieler Leute. Aus heutiger Sicht ist viel zu wenig bekannt (und kaum bewusst), wie witzig und unterhaltsam Welles sein konnte und auch oft war. Denn die Werke, die als „wichtig“ und bewahrenswert gelten, sind schwere Werke, die kaum heiter sind:
- Citizen Kane (der zwar immer wieder heitere Momente anschlägt, im Gesamten aber eher tragisch ist)
- Shakespeare-Stücke auf der Bühne und auf der Leinwand, die in den Bereich der Tragödie gehören wie „Othello“ und „Macbeth“
- Falstaff / Chimes at Midnight (wo die Komik von der intensiven Menschlichkeit überragt wird)
- Radio-Hörspiele, die als dramatisch gelten (und nicht als Komödie)
- F for Fake (der eher als Essay, denn als filmischer Streich gilt)
Begreift man Welles jedoch nicht als ernsten Künstler (auch wenn er solche Phasen zweifellos hatte), sondern als heiteren, lebensfrohen, fröhlichen und komödiantisch gewitzten Menschen, gewinnt man einen anderen Zugang zu seinen Werken. Dann erkennt man selbst in „Der Prozess“ eher eine „Dark Comedy“ als eine bierernste Romanadaption. Denn Welles’ Verfilmung ist witzig, so witzig, wie es nur möglich ist, nur geht das oft unter, weil der bedeutungsschwere Roman von Kafka eine solche Lesart „verbietet“.
Versteht man Welles als ewig jugendlichen, nach Herausforderungen, nach Spaß und Frohsinn suchenden und vor allem zu Streichen aufgelegten Menschen, wird manches klarer. Dazu gehört auch, dass er das von den Medien verliehene Label des „Wunderkinds“, des „Genies“ übernahm und selbstironisch präsentierte. Als häufiger Gast (so häufig, wie wir uns das heute kaum noch vorstellen können) in Radio-Unterhaltungssendungen (und später in Fernseh-Unterhaltungssendungen) kultivierte Welles dieses Image weiter, spielte damit (!) und pflegte den Nimbus des Wunderkind-Regisseurs, der zu genial für diese Welt ist.
Das Problem ist und war, dass das mediale Bild, das Welles selbst pflegte, zu viele Berührungen zu der realen Person besaß. Die selbstironische Brechung, die Freude am Leute-Unterhalten (auch auf eigene Kosten), die Gewitztheit und der bübische Charme vermischten sich mit dem Welles, der als Regisseur seine Vision umsetzen wollte. Hinzu kam das Image von Welles als Tyrann, das Welles ebenso gern und mit Freude verkörperte, gab es doch unglaublich viel Futter für ironische Brechungen und komisch-unterhaltsame Dialoge im Radio. „Wenn ich doch nur nicht so perfekt wäre, dass wenigstens einer mir mal widersprechen könnte“ illustriert die Bühnenpersona „Welles“ recht gut.
Dieser Ausschnitt illustriert gut, wie Welles einerseits die Erwartungen erfüllt (ein stimmgewaltiger Radio-Sprecher, der alles kontrolliert, aber eben auch in seiner eigenen Welt lebt und nichts außerhalb seiner Arbeit wahrnimmt), aber andererseits genau diese Klischees zur Erheiterung des Publikums bricht. Der Witz besteht aus der Fallhöhe des stoischen Sprechers und den wahnwitzigen Aktionen um ihn herum. Würde dort irgendjemand anderes stehen, wäre es nicht halb so lustig, aber Welles mit einem Radio-Mikrofon ruft sofort das passende Klischee wach, das im Sketch dann genüsslich demontiert bzw. auf die Spitze getrieben werden kann. Youtube ist eine wahre Fundgrube für witzige Beiträge von Welles im Fernsehen (wenn man einmal über seine „ernsten“ Interviews hinausgelangt;-)Jeder gute Comedian, auch wenn Welles selten als solcher gesehen wird, legt sich eine gute Bühnenfigur zu, mit der er arbeitet (Phyllis Diller beschreibt das sehr schön: Creating for yourself another stance). Da Welles aber nicht nur Comedian war, wurde diese Bühnenfigur des ambitionierten, tyrannischen, genialen Regisseurs zurückgespiegelt in die Realität. In der Wahrnehmung des Publikums (zu dem auch Filmkritiker, -historiker, -produzenten, -schauspieler gehören) verschmolzen die Bühnenfigur und der reale Welles. Deshalb konnte Welles seine späteren Filme nur noch in Europa drehen, wo er kaum als Comedian in Erscheinung getreten war. Hier in Europa wurde und wird er nur an seinen (Film-)Werken gemessen, wobei zumindest in Deutschland das Heitere, Bübische, Ironische oft übersehen wird.
Hier also das Fazit: In meinem früheren Artikel schrieb ich: „Wer Orson Welles verstehen will, kommt an Shakespeare nicht vorbei.“ Das würde ich unter dem neuen Licht etwas umformulieren. So wie Shakespeare ohne seine Komödien schwer verdaulich wäre („Romeo und Julia“ ist übrigens Shakespeares vulgärste Komödie, aber auch seine größte Tragödie), so gehört das Lebensfrohe, Heitere und der Spaß am Umgang mit dem Publikum (und das beinhaltet Selbstironie, komisches Talent und Hingabe) bei Welles unbedingt dazu. Seine Fähigkeiten als Zauberer sowie sein nie versiegender Optimismus und seine Schaffensfreude (die immer größer war als seine Schaffenskraft) legen davon beredt Zeugnis ab.
Das Internet Archiv hat eine große Sammlung von Radiobeiträgen, die das von mir Behauptete mit Leben erfüllen. Welles’ „Radio Almanach“ könnte als Radio-Version der „Harald Schmidt Show“ (damals auf Sat.1, also sie noch gut war ;-) gelten.Titelillustration: Hannes Geipel
Pingback: Kalender 2016: Popkulturelle Bilder – Images, Symbole, Icons des 20. Jahrhunderts | zanjero.de