Ein kluges Buch ist Christian Stöcker mit „Nerd Attack“ gelungen. Wie jedes kluge Buch ist es auch ein politisches Buch. Wie viele kluge Bücher hat es einen falschen Titel.
Die heutigen Endzwanziger bis Enddreißiger sind die Generation 64. Mit Computern, oft ein Commodore 64, aufgewachsen, ist ihnen die digitale Welt ins Blut und Denken übergegangen. Sie haben soweit sie zurückdenken können, Glücksmomente mit dem Computer erlebt. Momente, in denen etwas gelang oder entstand. Momente überraschender Kommunikation. Momente spielerischer Unterhaltung. Sie wissen, dass es in der Computerwelt ein „Try and Error“ ohne Konsequenzen und eine Undo-Funktion gibt. Dass die reale Welt nicht mit dem Internet verwechselt werden darf, beide aber immer wieder überraschende Gemeinsamkeiten oder Überschneidungen haben können. Dass digitale Besitztümer einen anderen Umgang ermöglichen und daher andere Anforderungen seitens der Kunden bestehen.
Der Commodore 64 erschien 1982 und ist bis heute der meistverkaufte Computer der Welt, allein in Deutschland wurden drei Millionen Geräte verkauft. Er versinnbildlicht das Wesen des Computers exemplarisch. Nach dem Starten bot sich ein leerer Bildschirm mit einer Statusmeldung und einem begierig blinkenden Cursor. Diese Tabula rasa galt es irgendwie zu nutzen – das Prinzip der Tabula rasa betont Stöcker mehrfach. Seine Beobachtungen und Schlussfolgerungen daraus sind spannend und überraschend. Sie reizen zum Widerspruch und zur Diskussion, aber widerlegen lassen sie sich kaum. Das wichtigste Element dieser Computer-tabula-rasa stellt Stöcker allerdings nicht heraus: die inhärenten Grenzen, die es zu überwinden gilt.
Die Heimcomputer, die Jugend- und Hackerkultur und die Weltpolitik verschmelzen in seiner Darstellung zu einer spannenden Lektüre der 1980er Jahre. Historische Anekdoten, persönliche Erlebnisse und technische Entwicklungen durchdringen einander und geben so ein Verständnis für die (Hacker-)Kultur. Gerade die öffentlichkeitswirksamen Hacks beeinflussten die Wahrnehmung von Computern in der Gesellschaft und zeigten deutlich, dass die Grenzen der Geräte oft nur theoretisch waren und überwunden werden können.
Waren die Computerfans und Hacker in den 1980ern noch als Nerds verschrien, so eroberten sie in den 1990ern zunehmend den Mainstream. Wie Stöcker notiert, sind 29 der 30 erfolgreichsten Filme aller Zeiten thematisch dem Nerd-Universum zuzuordnen: „Star Wars“, „Herr der Ringe“, „Harry Potter“, „Spiderman“. Nur „Titanic“ bildet eine Ausnahme. Mit dem Ankommen des Nerdtums im kulturellen und gesellschaftlichen Mainstream entsteht eine neue Kluft: zwischen Computernutzern/verstehern und den anderen. Vor allem mit Blick auf die rasche Mainstream-Werdung des Nerdtums ist der Titel „Nerd Attack“ zu aggressiv, zu populistisch und falsch gewählt. Aber was soll’s.
Das Schlimme, und da legt Stöcker den Finger in zahlreiche Wunden, ist die Kluft zwischen den Regierenden und den Computernutzern. Gesetze werden von Personen erlassen, die weder Computer in ihrem Wesen noch das Internet in seinem stetig wandelnden Sein erfasst oder verstanden haben. Das ist eine konkrete Gefahr, die sich in Unverständnis, Zensurbestrebungen, Überwachungsideen entlädt. Die Regierenden entfernen sich in ihrem Denken so weit von „ihrem“ Volk, dass die Petition gegen Internetzensur, wie im Gesetz von Ursula von der Leyen vorgesehen, sie überraschen musste – während die meisten unter 40 sich über die Überraschung nur wundern konnten.
Die Offline-Generation sehnt sich in einem Akt permanenter Verklärung und Nostalgie nach der guten alten Zeit, und bewertet pauschal beschriebenes und bedrucktes Papier höher als Blogs (mit welchen Gründen eigentlich?). Kein Medium ist per se besser, der Umgang damit entscheidet – pornografische Darstellungen lassen sich auch auf Papier, Film, Bild festhalten, das Internet ist nur eine weitere Möglichkeit –, wie „gefährlich“ ein Medium tatsächlich ist. Den Umgang kann man lernen … Die Online-Generation nutzt Miniblogdienste wie Twitter, teilt einen Teil ihres (Er-)Lebens über soziale Netze mit der Welt, stürzt Diktatoren, teilt Informationen und Daten, die für das Teilen gar nicht vorgesehen waren. Damit zwingt sie die Offline-Generation zum Handeln. Diese versteckt ihre Ignoranz zwar hinter koketter Arroganz und verkennt dabei, dass sie von den Computernutzern abgehängt und nicht mehr ernstgenommen wird.
Im Lauf der 30-jährigen Geschichte der Computernutzung wirft Stöcker immer wieder Blicke über den großen Teich. Denn gerade im Vergleich wird das Besondere und Andere in der deutschen Kultur und Politik sichtbar. Auch die jüngeren Entwicklungen in der arabischen Welt (bekannt als „arabischer Frühling“) zeichnet er unter der Perspektive der Techniknutzung nach. Allein wegen dieser Kapitel gehört sein Buch zur Pflichtlektüre für jeden Politiker, der Demokratie ernst meint.
Christian Stöcker gelingt in vielfacher Hinsicht ein wunderbares Buch. Es ist im besten Sinne interdisziplinär, weil es Gesellschaft, Kultur, Subkultur, Politik, Weltgeschehen, Soziologie, Computertechnik und persönliche Biografie nonchalant verbindet. Es ist informativ und unterhaltsam, weil er sich nicht in Nebensträngen seiner Gedanken verliert, sondern jeder Abschnitt präzise argumentiert und aufgebaut ist – in einer klaren verständlichen Sprache. Viele Beobachtungen und Schlussfolgerungen bieten wunderbare Ausgangspunkte für private Debatten (Mein Favorit: Ego-Shooter entsprechen in ihrer strukturellen Ästhetik Kafka). Es ist flüssig zu lesen, vertritt einen klaren Standpunkt und verzichtet auf Show-Effekte oder Egogestreichel. Was auch selten ist: Ich habe keinen einzigen Druckfehler gefunden.
Doch das wichtigste Kompliment, das ich einem Buch wie diesem machen kann, ist folgendes Bekenntnis: Ich habe es verschlungen, alle andere Lektüre wurde hintangestellt, ich wollte wissen, welche Argumentationslinien und Beobachtungen und Schlussfolgerungen und Entwicklungen als nächstes folgen. Wenn mich jemand fragen würde, wie ich die Situation Computer – Gesellschaft einschätze, würde ich derzeit zwei Bücher empfehlen: „Interface Culture“ von Steven Johnson (1999, aber immer noch hochgradig lesenswert) und gleich im Anschluss „Nerd Attack“. Höher kann ein Sachbuchautor in meinem Ansehen derzeit nicht steigen. Es freut mich, dass solche Bücher auch in Deutschland entstehen können.
Nachsatz: Dem Problem der falschen Titelwahl bin auch ich anheimgefallen. Mein „Apple-Faktor“ trägt erstens den Nachsatz „Band I“ bislang umsonst. Band II will und will nicht fertig werden, immer wieder verzögert sich das Arbeiten daran. Aber auch der Titel „Apple-Faktor“ unterschlägt, dass sich darin neben der technischen Geschichte zahlreiche Beobachtungen und Schlussfolgerungen über die Einflüsse des Computers auf Gesellschaft und Kultur finden. Wollte ich nur noch mal sagen, denn irgendwie beneide ich Christian Stöcker, dass es ihm trotz der Breite des inhaltlichen Spektrums gelungen ist, ein so konsistentes, geradliniges Buch mit so viel Sachverstand zu verfassen, das sich so gut liest. Und Neid ist – jedenfalls in meiner Sicht der Welt – das höchste aller Komplimente.
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