Das Trauma nach dem Casting [Update]

Casting-Shows füllen nicht nur das Fernsehprogramm, sondern auch zahlreiche private Unterhaltungen. Dass solche Sendungen einen eher zynischen Anspruch haben und „Realität“ nicht als Bewertungsmaßstab taugt, ist den Machern, Teilnehmern und dem Publikum bewusst. Aus diesem scheinbaren Widerspruch speist sich allerdings die Faszination solcher „Shows“, die eher nach den Prinzipien einer thematisch fokussierten Seifenoper angelegt sind.

Eine Gruppe von Studenten der Universität Tübingen schaute hinter die Kulissen und sprach mit Casting-Teilnehmern, -Moderatoren, -Produzenten, Medienkritikern und anderen, um das Phänomen besser greifen zu können. Die Prämisse, dass es eine „Casting-Gesellschaft“ gebe, wird von den vielseitigen und aufschlussreichen Interviews in den Kontext der Aufmerksamkeitsökonomie, der Selbstverantwortung und -inszenierung sowie der inszenierten Authentizität gestellt und gewinnt dadurch an medientheoretischer Relevanz.

Die zentrale Beobachtung ist „Der Zweck einer Casting-Show ist eine Casting-Show.“ Alle weiteren Elemente – die „Bild“-Artikel, die Tonträger, die „Konzerte“ – erhöhen nur die Vermarktungsgewinne. Ziel ist, emotionale Momente zu erzeugen, die sich gut verkaufen lassen. Deshalb gewinnt nie der beste Kandidat, sondern nur der, der am Ende übrigbleibt.

Die Casting-Gesellschaft: Die Sucht nach Aufmerksamkeit und das Tribunal der Medien (Amazon-Link): 346 Seiten, 18 Euro.
Der Artikel erschien in „Spree“, Oktober 2010

Update

Die Casting-Gesellschaft (Cover)

Mit „Casting-Gesellschaft“ scheint der Titel der Interviewsammlung allerdings irreführend gewählt worden zu sein. Vielmehr drehen sich alle Beiträge um Inszenierungen von Authentizität, und Casting-Shows sind nur eine Plattform, die diese ermöglicht. Dies haben die Interviewer auch selbst erkannt und neben den üblichen Verdächtigen auch einen Web-Guru, TV-Kritiker Oliver Kalkofe, TV-Moderatoren und andere angesprochen.

Eine zentrale Erkenntnis schimmert aber nur zwischen den Zeilen durch. Diese besteht aus einer eher profanen Dreier-Kette.

  1. Realitere (oder pseudo-realitere) TV-Formate schulen unsere soziale Intelligenz (siehe Steven Johnsons „Everything bad is good for you“).
  2. Das Publikum schaut solche Sendungen gern, die Produktionskosten sind vergleichsweise gering, die Produktion von TV-Formaten, die Realität abbilden oder einbeziehen oder abzubilden oder einzubeziehen vorgeben, steigt an. Dazu gehören v.a. auch sämtliche Casting-Formate.
  3. Die Menge an solchen TV-Formaten führt zu einem Zynismus bei Produzenten und einer Abstumpfung des Publikums. Das bewirkt eine konstante Verstärkung der Aufmerksamkeitsreize (siehe Aufmerksamkeitsökonomie).

Dabei bleibt die Authentizität zunehmend auf der Strecke, und die Inszenierung bzw. die inszenierte Präsentation von Realität wird der Standard. Damit entfernt sich selbst das „Reality TV“ zwangsläufig wieder von der Realität, allerdings ohne dies zu markieren. Erst diese Nicht-Markierung – im Gegensatz zu allen anderen früheren Medienformen wie Roman, Theaterstück, Film, die eben ganz bewusst niemals direkt real waren – sorgt für die von den Interviewern in der „Casting-Gesellschaft“ vorgetragenenen gesellschaftlichen Problemen.

Somit, und das ist wohl der größte Kritikpunkt, bleibt als wichtiges Fazit, dass weniger die angesprochenen und besprochenen Symptome z.T. unschöne Nebenwirkungen haben, sondern dass die Label „Casting“ und „Realität“ (Reality, Authentizität, echte Menschen, etc.) die wahre Lüge sind, weil sie oft wider besseren Wissens auf Sendungen geklebt werden. Alles andere ist ja echt. Irgendwie.

Alexander Florin: Alexander Florinein Kind der 70er • studierter Anglist/Amerikanist und Mediävist (M.A.) • wohnhaft in Berlin • Betreiber dieses Blogs zanjero.de • mehr über Alexanders Schaffen: www.axin.de ||  bei Facebook || auf Twitter folgen

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